Proteste in Iran: Kontrollverlust des Regimes

Lange war der Protest von Sport­le­r:in­nen individuell. Nun verfestigt sich der Widerstand, weil die Bevölkerung ihre eigenen Nöte wiedererkennt.

Portrait von Kimia Alizadeh

„Wir sind nur Werkzeuge“, sagte die aus Iran geflüchtete Taekwondo-Athletin Kimia Alizadeh Foto: Maryam Majd/imago

Als Irans beste Sportkletterin Elnaz Rekabi beim Finale der Asienmeisterschaften im Oktober mit freiem Haar antrat, wurde sie binnen Stunden zu einer Galionsfigur der iranischen Revolutionsbewegung. Von jubelnden Massen am Flughafen in Teheran empfangen, soll sich die Sportlerin nach einer mutmaßlich erzwungenen Entschuldigung mittlerweile in Hausarrest befinden.

Mit Grund nehmen Ath­le­t:in­nen oft eine besondere Rolle bei Protestbewegungen ein, von Belarus bis #BlackLivesMatter in den USA. Sie schaffen live vor den Augen einer Weltöffentlichkeit Bilder, die sich nicht zensieren lassen. Ihre Plattformen sind riesig, und Volks­hel­d:in­nen sind sie ohnehin schon.

Und doch ist es eine ungewöhnliche Bewegung, die sich aktuell unter Sport­le­r:in­nen in Iran formiert. „Wir sind nur Werkzeuge“, sagte die aus Iran geflüchtete Taekwondo-Athletin Kimia Alizadeh einmal. Aber das Regime hat die Kontrolle über seine Werkzeuge verloren.

Zurückgetreten vom Nationalteam: Taekwondo-Athletin Mahsa Sadeghi, „aus Respekt vor den iranischen Frauen“. Zurückgetreten vom Nationalteam: Fechter Mojtaba Abedin („die Menschen in meinem Land werden verachtet und verprügelt“). Zurückgetreten vom Nationalteam: Saijad Esteki, der Kapitän der Handballer. Ebenso zurückgetreten: Fereshteh Sarani, die Kapitänin der Rugbyspielerinnen.

Es sind nicht nur die pensionierten Ikonen des Männerfußballs – Ali Karimi, Vahid Hashemian, Ali Daei –, die sich äußern; reihenweise riskieren Aktive in ungewöhnlicher Radikalität ihre Laufbahn. Soroush Rafiei vom Spitzenklub FC Persepolis erklärte, sein Team hätte kein Interesse mehr, über Fußball zu reden oder überhaupt zu spielen. „Wer seid ihr, dass ihr mir sagen wollt, wie meine Frau sich anziehen soll?“ Das ist ein nie dagewesener Ton. Man riskiert ihn, wenn man glaubt, dass eine Diktatur ihrem Ende entgegengeht.

Dutzende Spit­zen­sport­le­r:in­nen sollen in Iran in Haft sein. Eine Gruppe iranischer Sport­le­r:in­nen fordert die Fifa auf, Iran von der Männer-WM im November in Katar auszuschließen. Auch die Teams sind offenbar sehr polarisiert, nicht je­de:r ist kritisch. Zugleich schildert der geflüchtete Ex-Ringer Sardar Pashaei: „Viele Leute sehen das Nationalteam nicht als ihres, sondern als das Team der Islamischen Republik. […] Und viele Ath­le­t:in­nen sehen das genauso.“

Diese Entfremdung sagt viel über die gesellschaftliche Stimmung aus. Denn die Rolle von Sport­le­r:in­nen in Herrschaftssystemen, ob Kapitalismus oder Staatsdiktatur, ist ambivalent: Sie sind bei ihrer Laufbahn massiv auf Gelder und Wohlwollen angewiesen; sie wachsen in staatlichen Leistungssystemen auf, sie sind auch Trophäen von Staatsführung und Regierung.

Globale Helden sind andere

Die Rolle von Ath­le­t:in­nen hat sich verändert. Durch den zunehmend globalisierten Sport, durch Social Media und einen stetig wachsenden Starkult erhalten Einzelne, vor allem in den USA, enorme Reichweiten. Der Footballer Colin Kaepernick, die Tennisspielerin Naomi Osaka oder die Fußballerin Megan Rapinoe: In progressiven Milieus gelten sie als globale Menschenrechtsikonen gegen Rassismus, sexualisierte Gewalt oder Polizeigewalt.

Zugleich sind sie Nischenfiguren: Für die große Mehrheit der Weltöffentlichkeit sind die Helden andere – exemplarisch dafür ist der Fußballer Ronaldo: hypermännlich, hyperneoliberal, reich und konsumorientiert, abgeschottet. Einzelne Leuchttürme eines politisierten Sports können darüber hinwegtäuschen, dass es in dieser konservativen Parallelgesellschaft mit Systemkritik nicht allzu weit her ist. Die hohe persönliche Risikobereitschaft der iranischen Ath­le­t:in­nen fällt im globalen Kontext auf.

Das hat Gründe. Stärker als anderswo ist Sport in Iran der Regierungskontrolle unterworfen. Die islamischen Geistlichen haben dabei ihre Strategien gegenüber Sport oft ändern müssen. Den abenteuerlichen Balanceakt zeigt ein Statement des Ajatollah Chameini 2013 gegenüber dem iranischen Olympiateam: Angesichts der Diskriminierung muslimischer Frauen im Westen sei es „wirklich wichtig und fantastisch, dass unsere Frauen mit Hidschab Sport treiben“.

Herrschaftssysteme profitieren davon, dass man es sich im Privaten gemütlich einrichten kann. Viele Bür­ge­r:in­nen tolerieren erstaunlich bereitwillig politische Schrecken, solange es sie selbst nicht trifft. Diese Möglichkeit gab es aber selbst für privilegierte Sport­le­r:in­nen kaum. Die Drangsalierung der Körper und die persönliche Unfreiheit waren mutmaßlich einer der größten Fehler des Regimes. So zieht man Widerstand heran.

Der Widerstand bleibt im Land

Der Kanute Saeid Fazloula wurde mit der Todesstrafe bedroht, weil er auf einer Auswärtsreise den Mailänder Dom fotografiert hatte, ein christliches Bauwerk. Er floh. Die Schach-Schiedsrichterin Shohreh Bayat wurde bedroht, weil ihr Kopftuch zu locker gesessen habe. Sie legte das Kopftuch ab und kehrte nie zurück. Dass Sport politisch ist, muss man solchen mutigen Ath­le­t:in­nen nicht erst erzählen.

In den alltäglichen Nöten der Sport-Protagonist:innen erkennt die Bevölkerung sich selbst. Und schon vor der Kletterin Elnaz Rekabi legten Sportlerinnen im Wettkampf das Kopftuch ab: die damals erst 19-jährige Schachspielerin Dorsa Derakhshani, die Schachkollegin Mitra Hejazipour oder die erste Boxerin seit der Islamischen Revolution, Sadaf Khadem. Alle sind ins Ausland geflüchtet.

Und das ist vielleicht der größte Unterschied zur Gegenwart: Über Jahre mussten Einzelne fliehen. Gesellschaftlich bewirkten sie nur isolierte Kampagnen. Nun aber bleiben viele, nun geht es um alles. Ihr Status schützt sie ein wenig mehr vor Gefängnis, das macht ihre Stimmen machtvoller. Und war ein abgelegtes Kopftuch zuvor ein kleiner Akt des Widerstands, fällt es jetzt wie Zunder ins lodernde gesellschaftliche Feuer.

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Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum, Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen zum Beispiel im Fußball und übers Reisen. 2018 erschien ihr Buch "Wir sind der Verein" über fangeführte Fußballklubs in Europa. Erzählt von Reisebegegnungen auch auf www.nosunsets.de

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