Deutscher Buchpreis für Kim de l'Horizon: Emphatischer Augenblick

Es war ein bemerkenswerter Auftritt von Kim de l’Horizon bei der Verleihung des Buchpreises. Diese Dringlichkeit findet sich auch in „Blutbuch“.

Kim de l'Horizon rasiert sich auf der Bühne den Kopf

Rasur auf offener Bühne, aus Solidarität mit den Frauen im Iran: Kim de l’Horizon Foto: Ar­ne Dedert/dpa

Diese Buchmessenwoche hat gleich zu Beginn starke Bilder produziert. Kim de l’Horizon bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises mit Schnurrbart und in hoch glamourösem Outfit. Erst der emotionale private Dank an die Mutter, schon das bewegend. Und gleich darauf die politische Aktion der Solidarisierung mit den Frauen, die im Iran um ihre Emanzipation und Freiheit kämpfen: die Kopfrasur auf offener Bühne.

Das hat das Zeug, im Gedächtnis zu bleiben. Aber ist das auch mehr als eine gute Performance? Wobei allerdings gegen eine gute Performance schon mal gar nichts zu sagen wäre. Ein Moment, in dem sich die Gegenwart als etwas Wachrüttelndes setzt und gegen die unweigerlichen Routinen so einer Preisverleihung behauptet, war dieser Augenblick auf jeden Fall.

Bemerkenswert ist aber vor allem die Verknüpfung von Privatem und Politischem, das gehört auch in dem „Blutbuch“, für das Kim de l’Horizon den Preis bekommen hat, unbedingt zusammen. Es ist zum einen ein sehr privates, stellenweise überaus intimes Buch, das dem Bewusstsein der sich als nonbinär definierenden Erzählfigur bis in die letzten Winkel nachspürt und auch den körperlichen Empfindungen, etwa beim Sex.

Man kommt dieser Erzählfigur streckenweise nahe, sehr nahe. Man taucht beim Lesen geradezu ein in ihre Gedanken und Ängste, Kompliziertheiten und Wahrnehmungen.

Suche nach Traditionen

Und gleichzeitig reflektiert die Erzählfigur aber auch stets die Hintergründe für die eigenen Empfindungen und Gedanken und die Widerstände, die einem sich selbstbestimmt anfühlenden Leben entgegenstehen. Exkursionen führen in nationalistische Naturbetrachtungen, die Ästhetik des Landschaftsparks, frühere Geschlechtsverhältnisse, das patriarchalische Selbstverständnis der Vorfahren. Und zugleich geht es um die Suche nach Traditionen, in denen man sich einfinden kann. Für die Erzählfigur sind das vor allem weibliche Traditionen.

Den bis dahin zugunsten der männlichen Familienmitglieder verschwiegenen Lebensläufen der Frauen im Familienstammbaum geht das „Blutbuch“ nach. Wie das im Einzelnen geschieht, mag man selbst nachlesen. Auf jeden Fall kommt einem, wenn man es gelesen hat, der Auftritt in Frankfurt eigentlich sehr folgerichtig, ja geradezu zwingend vor.

Darauf, dass es in diesem Schreiben um hohe existenzielle Dringlichkeit geht, konnte man vorbereitet sein und darauf, dass es sich dabei aber keineswegs um narzisstische Selbstbespiegelung handelt, auch. Dieses Schreiben verortet sich hoch aufmerksam in den politischen Auseinandersetzungen der Zeit, etwa eben im Freiheitskampf der Iranerinnen.

Schnell nach der Verleihung wurde etwa in den sozialen Medien der Verdacht geäußert, hier habe jemand einen Buchpreis für Queerness und Identitätspolitik bekommen. Das ist natürlich allzu billig und nimmt die literarische Expertise der Buchpreisjury zu wenig ernst. Vor allem zielt dieser Verdacht auch an dem literarischen Einsatz dieses Buches vorbei.

Queer ist nicht mehr „anders“

„Wie sehen Texte aus, wenn nicht ein menschliches Mustersubjekt im Zentrum steht und die Welt begnadet ins Förmchen goethet?“, heißt es in dem Buch. Das ist in einer diverser werdenden Gesellschaft, die sich auf geteilte Selbstverständlichkeiten nicht mehr verlassen kann, durchaus eine wichtige Frage, nicht nur, aber eben auch an die Literatur.

Insofern transportiert das Schreiben von Kim de l’Horizon tatsächlich etwas Zentrales. Queer ist nicht mehr „anders“. Romane mit Migrationshintergrund sind nicht mehr „Nische“. Bücher mit weiblichen Perspektiven sind nicht mehr „Frauenliteratur“. Popliteratur ist nicht mehr „Pop“ (um kurz die Romane der diesjährigen Shortlist durchzugehen). Und Bücher mit einem männlichen einsamen Helden, dem sein Leben zerfällt, sind eben nicht mehr der Standard. So formuliert, stimmt es schon, dass Gesellschaftsveränderungen und Literatur sich gerade vermischen – aber war das je anders?

Von einem traditionellen Literaturverständnis aus könnte man sagen, dass Kim de l’Horizon auf die gegenwärtige Lage mit Autofiktion und Formzertrümmerung reagiert. Aber das wäre nur die eine Seite. Auf der anderen geht es nämlich auch um die Suche nach einer neuen Form, und da setzt die Erzählfigur auf Techniken, die in der avancierten Literaturtheorie gerade als „tentakuläres Schreiben“ analysiert werden, also als ein nicht mehr zentral sich organisierendes Schreiben in verschiedene Richtungen hin.

Und gegen Ende des Buches setzt es, wenn auch mit einiger Vorsicht, jedenfalls auch auf Freundschaften, Beziehungen, auf soziale Einbettungen und politische Bezüge über die Familie hinaus. So wie es Kim de l’Horizon bei der Verleihung des Buchpreises gezeigt hat.

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