All die nie geschriebenen Texte

Die Bewahrung des kulturellen Erbes der Ukraine stand im Fokus einer Podiumsdiskussion in Berlin

Von Julia Hubernagel

Wenn täglich Menschen in einem Krieg sterben, scheint der Schutz von Objekten und Kulturgütern zweitrangig. Wenn eine Seite diesen Krieg jedoch dadurch legitimiert, der anderen Seite das Recht zu existieren abzusprechen, ihre Geschichte zu negieren, dann ist die Bewahrung ebendieser Kulturgüter besonders wichtig. In Berlin stand das ukrainische Kulturerbe daher am Freitagabend im Fokus einer Podiumsdiskussion, die im Rahmen der vom Goethe-Institut gestarteten Reihe „Goethe im Exil“ im Kunsthaus Acud stattfand.

Gleich zu Beginn des Krieges wurde viel zum Schutz von Kunstwerken getan, Gemälde und Skulpturen wurden sicher verwahrt oder außer Landes gebracht, sagt Hanna Rudyk, stellvertretende Direktorin des Chanenko-Museums in Kyjiw, das erst vor wenigen Wochen durch einen Raketenangriff Schaden nahm.

Dass die russische Staatsführung mit Absicht auf kulturelle Ziele schießen lässt, weiß auch Ksenia Paltsun. Sie erzählt von Bauwerken auf der Krim, die die Geschichte der Krimtataren architektonisch bezeugen. Welche Gebäude schützenswert sind, entscheide seit Jahren die russische Besatzungsmacht vor Ort, der wenig an der Bewahrung des Kulturerbes des turkstämmigen Volks liege. Paltsun ist Mitbegründerin der NGO „Mapa Renivstsii“, die historische Daten zu Gebäuden sammelt. Ursprünglich 2019 aus Neugier um die Geschichte der vielen leerstehenden Häuser in Kyjiw als Freiwilligenprojekt gegründet, fertigen die NGO-Mitarbeitenden heute 3-D-Scans jener Bauten an, die beim nächsten Bombenangriff schon in Trümmern liegen könnten.

Auch Daria Prydybailo setzt ihre Arbeit fort. Ausstellungen in Kriegszeiten zu eröffnen sei eine Form des Widerstands, so die Geschäftsführerin der NGO „Art Matters Ukraine“, die sich für die Sichtbarkeit ukrainischer Kunst einsetzt. Diese sei nämlich lange ein blinder Fleck gewesen, Prydbailo gibt ein Beispiel aus Dresden. Im dortigen Archiv der Avantgarden etwa würden Künstler wie Kasimir Malewitsch unter „russische Avantgarde“ geführt. Der in Kyjiw im damaligen russischen Zarenreich geborene Malewitsch, der vor allem für sein „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ bekannt ist, hat sich selbst als Ukrainer bezeichnet.

Der Krieg hat für die Sichtbarkeit der Ukraine gewaltsam gesorgt. Dass Ukrainerinnen in Berlin auf einem Podium ohne Russinnen sprechen sei bisher kaum vorgekommen, sagt Eva Yakubowski, Vorstandsmitglied von Vitsche, einem Verein junger Ukrai­ne­r:in­nen in Deutschland. Yakubowski, die vor Wörtern wie Genozid und Konzentrationslagern nicht zurückschreckt, um die aktuelle Situation zu beschreiben, wirkt angriffslustig. Während die Ukraine in diesem Jahr zu Einigkeit gefunden habe, sei Russland nur vereint im Hass, meint sie, unversehens all jene russischen Staats­bür­ge­r:in­nen übergehend, die trotz Repressalien protestieren oder zu zehntausenden das Land verlassen; meist ohne Chance auf Asyl in der EU, die russischen Kriegsdienstverweigerern nicht die­selben Rechte einräumt wie etwa Oppositionellen.

Trotz Schutzmaßnahmen wird auch in diesem Krieg Kulturgut zerstört werden. Wie viele Kunstwerke zudem aus den besetzten Gebieten bereits nach Russland gebracht worden sind, ist kaum nachzuvollziehen. Hanna Rudyk will daran glauben, dass ein Sieg der Ukraine die verlorenen Werke zurück ins Land bringen würde. Tragischer als den Verlust von Kulturgütern findet sie ohnehin die durch den Krieg in ihrer Entstehung verhinderten Arbeiten; all die nicht geschriebenen Romane, nicht komponierten Musikstücke und die niemals aufgeführten Theaterstücke.