Ukraine-Krieg spaltet Ostdeutschland: Sicherheit geht vor Freiheit

Der Ukrainekrieg spaltet die ostdeutsche Gesellschaft. Warum so viele „Ossis“ am Bild von der Sowjetunion als Friedensgarant festhalten.

Menschen protestieren auf dem Theaterplatz in Dresden im Oktober 2022 und halten ein großes Banner mit der Aufschrift "Freiheit" hoch

Irgendwie gegen alles: Tausende protestieren auf dem Theaterplatz in Dresden im Oktober 2022 Foto: Sebastian Willnow/dpa/picture alliance

DRESDEN taz | Es sind nicht nur die Bundesbürger westlich von Harz und Thüringer Wald, die mal wieder irritiert auf den unberechenbaren Osten schauen. Auch die „Ossis“ selbst kennen einander nicht mehr. Grund sind die Einstellungen zum russischen Krieg gegen die Ukraine.

Es geht ein Riss durch Freundes- und Kollegenkreise, durch Familien und Institutionen. Es ist die dritte Spaltungswelle in den vergangenen zehn Jahren. Erst war da das Einsickern neurechter Ideologien in die Mitte der Gesellschaft, dann kam der Corona- und Impfkrieg. Und nun ist es der richtige Krieg.

Meine Friseurin, die seinerzeit im Salon der SED-Bezirksleitung führenden Genossen den Kopf wusch, beruft sich auf Kunden als Quellen, wenn sie über angebliche ukrainische Luxusflüchtlinge auf vierteljährlichem Heimaturlaub herzieht. Der Friseurin gilt der ukrainische Präsident Selenski als „der größte Verbrecher – ein Schauspieler“.

Ein Dresdner Theaterkritiker bezeichnet Putin als „sich einst durch Dresden saufenden KGB-Tölpel und heutigen Möchtegern-Zar“. In seiner Münchhausen-Adaption am Dresdner Staatsschauspiel lässt Rainald Grebe eine Schauspielerin von einer seit zehn Jahren getroffenen Familienvereinbarung berichten: „Über das und das wird nicht gesprochen – sonst kracht’s!“ „Unser Freundeskreis ist an der Russlandfrage völlig zerbrochen“, bedauern Günter Kern und Frau Eva in Kamenz. Günter Kern ist der Bruder des weltbekannten Malers Georg Baselitz und durch Lukas Rietzschels „Raumfahrer“ zu einer Romanfigur geworden.

Man braucht sich nicht vorzumachen, da stünde eine rebellische kleine Minderheit gegen eine vermeintlich tragende große Mehrheit. In ganz Deutschland und Europa stehen sich Kräfte gegenüber, die entweder die Ukraine massiv unterstützen – oder aber einen Diktatfrieden um jeden Preis wünschen, wenn dadurch nur wieder Gas in die Kammer käme und die Brötchen billiger würden.

Der Hälfte gehen Sanktionen gegen das Kremlregime zu weit

Und doch bestehen nach wie vor signifikante Unterschiede im Verhalten des ost- und westdeutschen Bevölkerungsdurchschnitts. Ein Drittel der Ostdeutschen sieht in Putin bis heute keine Gefahr, im Westen empfindet nur ein Fünftel so.

Aufschluss bringt die Rubrik „MDR fragt“ des Mitteldeutschen Rundfunks mit jeweils um die 30.000 Teilnehmern. Der Hälfte von ihnen gehen Sanktionen und Maßnahmen gegen das Kremlregime zu weit. Sieben von zehn Ostdeutschen fühlen sich in der Einschätzung russischer Politik kompetenter als die „Wessis“. Folglich konstatieren fast zwei Drittel aktuell eine Vertiefung der Ost-West-Spaltung.

Aber warum – 32 Jahre nach der formalen Vereinigung? Verlässliche Ursachenforschung zu diesem anhaltenden Teilungsphänomen gibt es nach wie vor nicht. Es lässt sich nur mit der fortwirkenden Prägung durch die Jahre bis 1989 erklären, einer Prägung, die das wiedervereinigte Deutschland auch in drei Jahrzehnten nicht aufzuheben vermocht hat.

Für diese Annahme spricht die Generationenspaltung der Ostdeutschen selbst. Hartnäckige Putin-Versteher, die trotz eines offenkundigen Eroberungs- und Vernichtungskriegs immer noch russische Sicherheitsinteressen „ins Feld führen“, haben in aller Regel mindestens die 40, meist die 50 überschritten. Das DDR-Fähnchen eines Demonstranten auf dem Dresdner Theaterplatz liefert den Schlüssel für Erklärungen.

Solche Demos richten sich nur vordergründig gegen die Preisexplosion. Wer hier steht, sucht in manischem Eifer nach allem, was das Moskauer Verbrecherregime irgendwie entlasten könnte. Und grundsätzlich sind immer die zweifellos auch nicht gerade harmlosen US-Amerikaner an jeder Eskalation der Gewalt in der Welt schuld.

Man darf es sich aber nicht zu einfach machen: Hier stehen nicht unbedingt dieselben, die seit Jahren gegen alles, was irgendwie von oben kommt, auf die Straße gehen. Es gibt sehr wohl militante Impfgegner aus dem Vorjahr, die gar keine Lust haben, gemeinsam mit Schwenkern von Russlandflaggen gesehen zu werden.

Demonstrierende halten beim so genannten „Montagsspaziergang“ in Chemnitz Russlandfahnen hoch

Russland wird hier gefeiert: „Montagsspaziergang“ in Chemnitz im November 2022 Foto: Härtel Press/imago

Kalter Krieg als Zeichen der Stabilität

Und doch: Wer ostzulande nicht gegen alles ist, wird verdächtigt, für etwas zu sein, mithin mit „denen da oben“ zu kollaborieren – eine subtile Kontinuität aus Zeiten des SED-Regimes.

Im Rückblick erscheint vielen sogar der Kalte Krieg, das Gleichgewicht des Schreckens, als Zeit der Stabilität. Als der eine Pol dieser Abschreckung garantierte die Sowjetunion den Frieden und damit den bescheidenen Fortschritt in der DDR.

Posthum erst wird klar, dass es nicht nur Propaganda war, wenn der FDJ-Chef Egon Krenz 1974 rief: „Alles, was wir sind, sind wir durch sie (die Sowjetunion)!“ Die heute noch lebende DDR-Generation hat die Rote Armee nicht mehr als brutale Besatzungsmacht wie bei dem Aufstand von 1953 kennengelernt. Ausgewählte, wie die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, studierten in der Sowjetunion, Kinder- und Jugendorganisationen veranstalteten Freundschaftstreffen.

Halb ironisch, halb schulterklopfend sprach man vom „Großen Bruder“. In der ARD-Filmproduktion über Russland und die Ostdeutschen bestätigt ein damaliger hoher NVA-Offizier die anerzogene Liebe zur Sowjetunion. „Amerika ist mein Feindbild“, sagt er. Auf Demoplakaten 2022 steht: „Besatzungsmacht USA“.

Sicherheit ging vor Freiheit und schützte zugleich vor der heutigen unüberschaubaren und unheilvollen Welt der schlechten Nachrichten. Ein unterschätzter Anteil der „Ossis“ hat sich enttäuscht in den Trotz zurückgezogen, überfordert von der Nichterfüllung der eigenen Illusionen 1989. Der Westen galt als das Paradies schlechthin, und dann versprach auch noch ein dicker Messias blühende Landschaften. „Wir haben demonstriert, nun macht uns mal richtig glücklich“, könnte man es auf eine Formel bringen.

Das Glücksversprechen war ein materialistisches, das Gefühl für die Wert- und Wertelosigkeiten des eigentlich ersehnten neuen Systems stellte sich erst später ein. Aber man durfte sich doch 1989 unmöglich geirrt haben!

„Mit Trump wäre das nicht passiert“

Das in 30 Jahren mühsam erarbeitete Arrangement mit einer verunsicherten und verunsichernden Welt bekommt einen weiteren Tritt. Krieg? So was gab es damals nicht. Und nicht der Imperator Putin ist der Böse, sondern jene, die ihn und ein System bekämpfen, das die stabile Ordnung um jeden Preis über alles stellt.

Die Anfälligkeit gegenüber Despoten ließ seit 2016 sogar die USA sympathischer erscheinen. „Mit Trump wäre das nicht passiert“, meinte kurz nach Kriegsbeginn der ins Motzermilieu abgedriftete Kabarettist Uwe Steimle – und nicht nur er.

Einmal mehr zeigt sich die Erosion gesellschaftlicher Grundkonsense im Osten deutlicher. Moralfrei, entwurzelt und empathielos gehen hier viele auf Distanz zu einem Krieg, der ohnehin angeblich ein amerikanischer ist. Hauptsache, wir werden nicht noch weiter verunsichert!

Bei den Sachsen kommt ihr kollektives Trauma hinzu, seit 280 Jahren beharrlich zu den Kriegsverlierern zu gehören und untergehenden Systemen gefolgt zu sein. Hier besitzt der Spruch „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ noch Verführungskraft.

Die Linke derweil bemüht sich um Distanz – und schafft es doch nicht, klarzustellen, dass sie bloß gegen die Krisengewinnler und die Entsolidarisierung demonstrieren will. Im Sächsischen Landtag bedankte sich AfD-Landeschef Jörg Urban für den „teilweisen Schulterschluss“. Immerhin hat der frühere Volkswitz bei den Klardenkern überlebt. Im Netz kursiert die Persiflage des einstigen Straßenrufs der Neunundachtziger: „Wirr ist das Volk!“

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