Von Ackergiften und Helikoptermüttern

In „Das Gift“ erzählt die argentinische Autorin Samanta Schweblin von Müttern, sterbenden Kindern und einem geheimnisvollen Gift irgendwo in der Pampa. In Hannover kommt der magisch-realistische Roman erstmals auf die Bühne – und bleibt auch dort rätselhaft

Kontaminierender Glibber – aber worin das „Gift“ konkret besteht, wird nie ganz klar Foto: Moritz Küstner

Von Jens Fischer

Betonkühl ist der Spielraum für einen Rätselabend hergerichtet. Nur ein riesiges Metallrad wird ab und an durch den leeren Saal geschoben – als zermahlende Unheilsmetapher oder als Uhrzeiger, der das narrative Hin-und-her-Springen auf der Zeitachse illustriert. Um die Handlung surreal wegzurücken, liegt Hall auf den Stimmen der Schauspieler:innen, umgarnt von unheilschwanger blubbernden oder fiependen Geräuschen. „Sie sind wie Würmer“, so drückt Protagonistin Amanda (Johanna Bantzer) gleich zu Beginn ihr schmerzend juckendes Unwohlsein unter der Haut aus und bringt den so ungeduldigen wie eindringlichen Gesprächspartner David (Alban Mondschein) ins Spiel.

Der ist ein Geist, der gern verneint und Amandas Ausführungen immer wieder unterbricht, korrigiert, abwimmelt. Denn David will ein Coach der erkenntnisfördernden Erinnerungsarbeit sein und Einsicht in mangelnde soziale Verantwortung erzwingen: Es gilt einen Fluch zu verstehen, der am Handlungsort in der argentinischen Pampa die Landschaft, Tiere und eben auch Menschen vergiftet. Deswegen hat der deutsche Verlag die Übersetzung von Samantra Schweblins geheimnisvollem Roman „Distancia de rescate“ (Sicherheits-/Rettungsabstand) konkretisierend als „Das Gift“ veröffentlicht. Eine prima Theatervorlage ist der 80-seitige Dialog von Amanda und David. Am Staatstheater Hannover brachte Juan Miranda die Uraufführung heraus.

Die leise verstörend entwickelte Hochspannung der Buchlektüre beruht auf dem Wunsch, mit Amanda die Geschehnisse in der ländlichen Schein-Idylle ihres Urlaubsortes begreifen zu wollen. Höchst obskur kommt schon mal Davids Vergiftungsgeschichte daher. Mutter Carla legt seine Rettung in die Hände einer Fachfrau für Hexenkunst. Um ihre dunklen Zauberkräfte zu illustrieren – den sogenannten Pfad zur linken Hand wider den rechten Pfad des christlichen Glaubens –, bandagiert David die linke Hand seiner Mutter mit teerschwarzem Glibber und suhlt sich selbst darin.

Im Originaltext ist mit eher biblischer Schöpfungsmetaphorik von „lehmverschmierten Händen“ die Rede. Behauptet wird, David sei tatsächlich nicht gestorben, sondern Teile seiner kontaminierten Seele seien ausgelagert und ersetzt worden. Als Amanda sich selbst und ihre ebenfalls infizierte Tochter vor dem Tod retten will, greift sie ebenfalls in die Wabbelmasse – und verfällt in Albträumerei. Am Ende aller Tage hilft nur Aberglaube?

Aber worum geht es in diesem magischen Realismus? Anhand der Nachfragen und beiläufigen Hinweise von Spielleiter David sind Indizien zu sammeln. Recht früh fällt das Wort „Notaufnahme“ und legt nahe, dass wir die letzten halluzinatorisch vorüberziehenden Bilder der im Sterbebett delirierenden Amanda erleben. „Kinder mit Missbildungen“ werden erwähnt: „Sie haben keine Wimpern und auch keine Augenbrauen, ihre Haut ist rot, sehr rot, und schuppig.“

Als Männer „große Fässer“ von einem Lkw abladen und etwas die Körper von Amanda und ihrer Tochter nässt, sagt David endlich: „Das ist es, das ist das Wichtige.“ Schon bald ist auch von Sojafeldern die Rede. Bühnennebel zieht wie frisch versprühte Pestizidwolken vorüber. Ackergifte sind also das Thema. Laut einer 2020 auf BMC Public Health veröffentlichten Studie erkranken weltweit 385 Millionen Menschen in der Landwirtschaft an akuten Pestizidvergiftungen, etwa 11.000 Menschen sterben pro Jahr daran.

Aber so konkret wird Schweblin nie. Sie setzt mit der Poesie ihrer eindringlichen Erzählkunst auf Andeutungen, die erst die Fantasie inspirieren und dann vielleicht zur Eigenrecherche anregen, sich mit dem weltweiten Pestizidhandel zu beschäftigen. In der argentinischen Heimat der Autorin grasen ja längst nicht mehr horizontweit die Rinderherden für die Steakhäuser der Welt, sondern auf endlosen Feldern wird genmanipuliertes Soja angebaut, das beispielsweise als Sojaschrot in Europa massenhaften Absatz als Viehfutter findet.

„Sie sind wie Würmer“, so drückt Protagonistin Amanda gleich zu Beginn ihr schmerzend juckendes Unwohlsein unter der Haut aus

Daran verdient ein Unternehmen wie Monsanto gleich doppelt. Hat es doch Sojasamen so gezüchtet, dass sie den Einsatz ihres Pestizids Glyphosat überleben, das alles andere Leben weit und breit abtötet. Argentinien gilt als das Land mit dem höchsten Glyphosat-Verbrauch pro Einwohner:in. Seit Jahren dafür kritisiert, dass sie Millionen mit dem Export hochgefährlicher „Pflanzenschutz“-Chemikalien verdienen, die teilweise in Europa längst verboten sind, werden in Deutschland etwa Unternehmen wie BASF und die Bayer AG, die 2018 für 63 Milliarden Euro Monsanto gekauft hat.

Das Theater schafft es aber leider nicht, die Bannkraft der Vorlage und damit einen gemeinsamen Pulsschlag zwischen Ensemble und Publikum inszenatorisch zu erzeugen. Auch schauspielerisch ist der Abend eher blass. Die weiterführende Idee, dem Ausdruck mit Tanztheatermitteln nachzuhelfen, wird leider nur temporär erprobt.

In lakonisch anklagender Klarheit gelingt es allerdings, den literarisch behaupteten Zusammenhang von „Gift“ und „Sicherheitsabstand“ zu verdeutlichen. Amanda hat als eine von Ängsten getriebene Helikopter-Mutter immer den gerade noch akzeptablen Abstand zu ihrem Kind eingehalten, um es jederzeit am Laufen auf die Straße oder vor der Attacke eines Hundes bewahren zu können. Aber sie war in ihrem Kontrollwahn eben nicht aufmerksam genug, um es vor realen Gefahren, ja, tödlichen Bedrohungen des globalisierten Kapitalismus zu schützen.

Das macht sie zum typischen Feindbild der Letzten Generation – eben als Vertreterin der alten, weißen Menschen, die sich um die private Unversehrtheit ihres Wohlstandslebens kümmern, aber fatalerweise nichts gegen die Umweltvergiftung etwa der Agrarindustrie tun und somit die Zukunft ihrer Kinder gefährden. „Sterben ist nicht so schlimm“, sagt David angesichts von ­Naturzerstörung und Klimawandel zur sterbenden Amanda – und betont so auch die Hilf- und Ratlosigkeit der argentinischen Landbevölkerung.

„Das Gift“: wieder am 4. 1. 23, 19.30 Uhr, Hannover, Ballhof zwei, Knochenhauerstraße 28; weitere Termine: 26. 1. 23, 12. und 25. 2. 23