Frauen in Iran: Scheherazades 1001 Töchter

Weibliches Märtyrertum ist in der persischen Kultur fest verankert. Die alten Mythen sind eine Bastion gegen den aufgezwungenen islamischen Glauben.

Eine Frau in kämpferischer Pose steht auf einem fliegenden Teppich

Illustration: Katja Gendikova

Wir Ira­ne­r*in­nen sind von den alten persischen Geschichten und Mythen geprägt. Die Epen aus dem „Schahnameh“ kennen in Europa wenige, doch wir wurden mit diesen Geschichten schon von Geburt an zusammen mit der Muttermilch gefüttert. In diesen altpersischen Mythen gibt es einen Dämonen namens Gier, der alles frisst, bis nichts mehr übrigbleibt. Eine Geschichte erzählt von dem Untergang der Welt. Dies geschieht, weil der besagte gierige Dämon, alles, sogar die anderen Dämonen verschlungen hat und am Ende beginnt, sich selbst zu fressen.

Beim Anblick der heutigen Erde und deren Natur, die von uns Menschen ruiniert wird, muss ich ständig an das Bild der Gier denken und dazu auch feststellen, wie durchdacht und zeitlos die persischen Mythen waren.

Auch die Märchen aus 1001 Nacht sind ein wichtiger Bestandteil der Kultur der Menschheit. Das Spannendste ist jedoch die Erzählerin selbst. Scheherazade war die Tochter eines Ministers, der einem despotischen misogynen König diente. Die Königin hatte ihn betrogen, und fortan projizierte er seinen Hass auf alle Frauen. Er heiratete jede Nacht eine Jungfrau und ließ sie am Morgen darauf hinrichten. Alle Eltern fürchteten um ihre Töchter und wussten, dass auch sie früher oder später dran waren.

Scheherazade war bereit, sich für alle Frauen zu opfern

Scheherazade war sowohl eine gebildete Frau, die Tausende Geschichten kannte, als auch eine mutige, die sich für die Frauen einsetzen wollte. Sie schlug ihrem Vater vor, sie mit dem König zu vermählen. Der Minister, der den despotischen und egoistischen König sehr gut kannte, wollte nicht seine geliebte Tochter opfern. Scheherazade aber diskutierte mit ihrem Vater und beharrte darauf, dass dies die einzige Chance sei, den König von den Ermordungen der Frauen abzubringen. Also verheiratete der Minister seine Tochter mit dem König, gefolgt von einer schlaflosen und angsterfüllten Nacht.

Nach dem Beischlaf mit dem König bat Scheherazade ihn, zum letzten Mal in ihrem Leben ihrer Schwester eine Geschichte erzählen zu dürfen. Der König erlaubte es ihr. Scheherazade erzählte eine Geschichte, doch nur bis zur Mitte, und ließ das Ende offen. Als der König frühmorgens seine Braut hinrichten lassen wollte, dachte er an die schöne Geschichte und verschob die Ermordung auf den nächsten Tag. Scheherazade erzählte 1001 Nacht Märchen und Märchen, bis der König durch die Geschichten geheilt wurde und weder sie noch die anderen Frauen ermorden lassen wollte.

Scheherazades Geschichten haben wir in unseren Herzen bewahrt, tausende Jahre während all der Kriege, Besetzungen und brutalen Hinrichtungen. Sie haben uns geholfen, wieder aufzustehen, weiterzumachen und nicht nur an uns selbst zu denken, sondern auch – wie Scheherazade – an jede andere Frau, an die Menschheit. Wenn Johann Wolfgang von Goethe in seinem „West-östlichem Divan“ sieben große Poeten erwähnt, die alle Perser sind, dann weist er auf eine sehr reiche Dichtung hin. Zu Recht beschreibt er das Buch von Hafiz als ein Orakel, das die zukünftigen Ereignisse voraussehen würde.

Als meine Schwester in den achtziger Jahren im Foltergefängnis Evin einsaß und ich meinen Eltern beim Neujahrsfest eine Freude bereiten wollte, habe ich ihnen ein Gedicht von Hafiz vorgelesen, das voraussagte, dass das verlorene Kind bald nach Hause kommt. Die altpersischen Epen und die Mystik bilden ein wichtiges Fundament der iranischen Kultur.

Persische Poesie als politische Botschaft

Der große persische Dichter Ferdowsi bereicherte die persische Sprache nach der Eroberung des heutigen Iran durch die Araber, indem er die Epen, alten Mythen und Geschichten neu belebte. Er bezeichnete sich selbst als „unsterblich“, weil er ein Schloss der Dichtung gebaut habe, das unzerstörbar sei.

In seinen Gedichtbänden spielt die Bedeutung des Namens eine große Rolle. Der Tod wird mit dem Leben zusammen geboren, und wir sind alle bloß Gäste auf dieser Welt. Was von uns bleibt und verewigt wird, ist der gute Name. Wer durch gute Gedanken, gute Worte und gute Taten (die altpersischen Gebote, die bis heute in der iranischen Kultur gelten) einen guten Namen erwirbt, hat für immer einen Platz in unseren Herzen.

Auch in der Mystik, die in den altpersischen Religionen verwurzelt ist, ist der Mensch nur ein Gast auf dieser Erde. Die Seele des Menschen ist göttlich, und durch die Erkenntnis wird man erlöst. Die Seele ist schön, rein und befreit von Gier und anderen Dämonen, und der Mensch soll durch die guten Taten Gott in sich erkennen. Nur so kann die Seele wieder zu Gott fliegen und sich mit ihm vereinen.

Der Islam ist seit 1.400 Jahren ein Zwang in Iran. Die Dichter mussten sich als Muslime bezeichnen und haben deshalb durch Metaphern und unzählige Mehrdeutigkeiten ihre Gedanken geteilt. Und da die Mystiker keine Mullahs benötigten, um sich mit Gott zu vereinigen, wurden sie nicht nur ­gefoltert, sondern schlussendlich meist ermordet.

„Ich hasse eure Religion und eure Bräuche!“

Damals hatte die Macht immer zwei Säulen. Die Monarchie neben der Religion. Wenn der König die Religionsvertreter verachtete, putschten diese gegen den König. Aber nun, da die Religiösen ganz allein an der Macht sind und Hunderttausende Sicherheitskräfte diese Macht mit Gewalt und schweren Waffen sichern, werden nicht nur die Machthaber, sondern auch ihre Religion mit all ihren „göttlichen Gesetzen“ gehasst.

Die Verbrennung eines Kopftuchs ist deshalb viel mehr als nur ein Stück Stoff, das in Flammen aufgeht. Es zeigt das erlittene Trauma, entstanden durch ein Regime, das sein eigenes Religionsverständnis der ganzen Bevölkerung aufzwingt. Deshalb singen die Protestierenden auf den Straßen unter Lebensgefahr: „Ich hasse eure Religion, eure Sitten und auch eure Bräuche!“

Dieser Hass ist nicht neu. Vor 40 Jahren haben mein Vater und ich zusammen das Buch „Islam in Iran“ gelesen. Als er die Geschichte der Eroberung Irans durch Muslime las, meinte er: „Vielleicht war auch Mohammed wie Chomeini, was wissen wir schon über seine Kriege. Wir haben Chomeini geliebt, und aus ihm ist ein Henker geworden.“ Danach ist er beten gegangen, weil er neben dem Hass auf die Machthaber eine Mischung aus Zweifel, Furcht und Glaube empfand.

Im Gegensatz zu mir, die ich eine Teenagerin war und aus der Schule rausgeworfen wurde, weil ich mich geweigert hatte zu beten. Ich lebte in Angst und Perspektivlosigkeit, bevor ich vor 36 Jahren nach Deutschland flüchtete. Ich weiß nicht, wie sich die Zweifel bei ihm entwickelt hatten, weil er während meiner Exilzeit ohne die Gelegenheit eines Abschied verstarb.

„Lest keinen Koran, betet nicht an meinem Grab“

Heute wie damals werden die Demonstrierenden wegen „Krieg gegen Gott“ zum Tode verurteilt, weil sich die Machthaber als Vertreter Gottes bezeichnen und auch Gott als unmenschlich gegenüber dem Volk dargestellt wird. Ein junger Mensch, der seine Welt durch die Gebote der Dämonen als ein Gefängnis bezeichnet, sehnt sich nach Freiheit. Er hat nur zwei Wege vor sich, entweder in diesem Gefängnis wie seine Eltern alt zu werden und ein unwürdiges Leben zu führen – oder sich zu erheben.

Wenn er auf diesem Weg stirbt, wird er ein Märtyrer und verewigt sich in den Herzen der Menschen, die seine Ideale teilen. Auch im schiitischen Islam existiert Märtyrertum, nur das hier für Gott gestorben wird. Wenn ein Muslim auf dem Weg Gottes getötet wird, kommt er ins Paradies.

Als Majid-Reza Rahnavard am 12. Dezember ­hingerichtet wurde, haben seine Henker ihn im letzten Moment gefragt, was er sich wünscht. Seine Augen waren bereits verbunden, doch auch an der Schwelle zum Todes zeigte er keinen Zweifel: „Lest keinen Koran und betet nicht an meinem Grab!“ Die Mörder haben ihn ausgelacht und seine Worte veröffentlicht, um zu zeigen, dass er ungläubig war und zu Recht sterben musste. Seine Worte wurden aber von Ira­ne­r*in­nen gewürdigt und bewundert. Sie bleiben unvergessen.

Bei uns identifiziert man sich mit seinem Namen, der mindestens eine Bedeutung hat. Die Frau, die die heutige Revolution auslöste, hieß auf Kurdisch Jina, was Frau, Leben und auch Siegerin bedeutet. Sie durfte ihren kurdischen Namen nur im Verborgenen tragen, so wie auch ihre Ideale. Die Mädchen in Iran werden unterdrückt, entführt, vergewaltigt und hingerichtet, aber die Henker lauschen keinen Geschichten mehr. Sie haben nur ein einziges Buch und halten sich so fest da dran, dass sie die Menschlichkeit vergessen haben.

Der Dämon der Gier in Gestalt der Mullahs

Sie sind die Fremden, die gegen die Bevölkerung einen Krieg führen, sogar mit Panzern und schweren Waffen. Und sie finanzieren durch den Verkauf der Landesschätze Hunderttausende von Sicherheitskräften, deren Aufgabe einzig und allein darin besteht, die Macht der Mullahs zu sichern. Die Regierungen anderer Länder (auch die deutsche) sind dem Regime dabei behilflich, das Mörderregime stabil zu halten.

Seit über drei Monaten kämpfen die Menschen in Iran unter Lebensgefahr auf den Straßen oder streiken trotz massiver Drohungen. Diese wunderbare, einzigartige, feministische Revolution wird gerade abermals niedergeschlagen. Während ich diese Worte schreibe, werden Menschen in Iran verhaftet, gefoltert und ermordet. Über 500 Morde (darunter zahlreiche Kinder) und über 20.000 Gefangene innerhalb von drei Monaten sind die Reaktion des Regimes. Die Dunkelziffer ist um einiges höher.

Egal wie unwichtig unsere Stimme uns auch vorkommen mag, die Revolution in Iran, insbesondere in Kurdistan, hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass jede von uns mindestens eine Geschichte zu erzählen hat, durch die viele Leben gerettet werden könnten. Und dass wir gemeinsam sogar den Dämon der Gier in Gestalt der Mullahs bekämpfen können.

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