Regisseur über seinen Film „Unruh“: „Die Welt ist überall wichtig“

Cyril Schäublin spricht über die anarchistischen Anfänge im Schweizer Jura, seine Uhrmachergroßmutter und die Rolle der Peripherie im Film „Unruh“.

Viele Frauen arbeiten in einer Uhrenmacherwerkstatt, ein Mann im Kittel begutachtet ihre Arbeit

In Schweizer Uhrenfabriken arbeiteten im 19. Jahrhundert viele Frauen: Szene aus „Unruh“ Foto: Grandfilm

Die Uhrenindustrie in Saint- Imier, einem kleinen Dorf im Schweizer Jura, wird in den 1870er Jahren zum Fokuspunkt der frühen anarchistischen Bewegung. In der Pause stürzen sich die Frauen der Fabrik auf die Fotografien von Anarchisten aus ganz Europa. Cyril Schäublin zeigt in „Unruh“ das Ringen um die gesellschaftliche Hegemonie zwischen Wirtschaft, Nationalismus und Anarchismus in den frühen Jahren der modernen Demokratie der Schweiz.

taz: Herr Schäublin, im Zentrum Ihres Films „Unruh“ stehen die Arbeiterinnen in der Uhrenfabrik und ihre Rolle bei den Anfängen des Anarchismus in der Schweiz. Würden Sie den Film als feministische Relektüre dieses Teils der Geschichte bezeichnen?

Cyril Schäublin: Vielleicht ist es eher ein Sich-Wundern über die Organisation von Geschichtsschreibung und was das eigentlich heißt. Wenn man einen historischen Film macht, stellt sich die Frage, was stehen einem als Filmemacher für Informationen zur Verfügung und wie organisiert man diese, was setzt man ins Zentrum? Es gibt ja immer eine standardisierte Version der Geschichte, und dann gibt es wie immer auch marginale Räume, Außenräume, Peripherien. „Unruh“ ist dem Wunsch entsprungen, da hin zu schleichen.

Der Film wurzelt in Ihrer Familiengeschichte. Waren da auch vor allem die Frauen in den Uhrenfabriken?

Ja, bei mir in der Familie ist immer mehr über die Frauen der Uhrenfabrik, in der meine Familie gearbeitet hat, geredet worden. Warum, ist eine spannende Frage. Meine Großtanten und meine Großmutter haben schlicht jeden Tag neben der Care-Arbeit da gearbeitet und eben diese Unruh reguliert. Am Anfang stand dieses Wundern, was im Leben von Menschen wie meinen Großtanten, meiner Großmutter – und schon meine Urgroßmutter war Re­gleuse­ar­bei­te­rin – geschehen ist. Wie haben sie ihre Leben, ihre Tage verbracht? Dem wollte ich einen filmischen Raum schenken. Das war ein Anfang.

Sie sagen „ein“ Anfang, was waren andere?

Florian Eitel hat in seinem Buch „Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz“ (Open Access bei Transcript) dargestellt, dass die ersten Krankenkassen für unverheiratete Arbeiterinnen von der anarchistischen Kooperative gestellt wurden und dass es eigentlich unmöglich war, als unverheiratete Arbeiterin von anderswo eine Krankenversicherung zu bekommen. Ich weiß nicht, ob man all das ­feministisch nennen kann, oder ob ich es so nennen dürfte, aber es fällt schon auf, dass damals sehr viele Frauen in dieser Industrie gearbeitet haben, vor allem junge Arbeiterinnen, meistens für auswechselbare Arbeiten. Die haben an der Arbeit partizipiert, aber eben nicht an der jungen Demokratie der Schweiz.

Was ist so besonders an dieser Uhrenindustrie?

Die Uhrenfabrik, in der meine Familie gearbeitet hat, wurde 1853 gegründet. In der Gemeinde, wo meine Familie herkommt, gab es eine Römerstraße, die von Basel nach Genf führte. Das war eine Hauptverkehrsachse von Nordeuropa ans Mittelmeer. Jahrhundertelang lebten die Dörfer von dieser Straße als Hufschmiede, als Gastwirt, alles Mögliche, und all das fiel mit der Ankunft der Eisenbahn in den 1840er Jahren weg. Es gab dann erst mal Auswanderungswellen nach Nord- und Südamerika. Die Uhrindustrien im Jura-Bogen – und dadurch unterschied sie sich von anderen Industrien – waren immer Gemeindeprojekte am Anfang. Es gab kommunitäre Anfänge. Die Gemeinden haben gesagt, wir investieren jetzt in diese Industrie.

Von diesen familiengeschichtlichen Elementen hat sich der Film dann ja doch eher zu Kollektivsubjekten, den Uhrmacherinnen, den Nationalisten, der anarchistischen Bewegung entwickelt. Wie hat sich der Film von der kleinen zur großen Geschichte entwickelt?

Zuerst hat mich die Uhrfabrik als Ort interessiert, und zwar weniger, um einen historischen Film draus zu machen und zu zeigen, wie das war, sondern eher als Entdeckungszone, als Raum, den man mit einem Film entdecken kann. Da bieten sich einfach Situationen, die mir sehr gelegen kommen. Ich habe ja zum Beispiel eine große Faszination für Zahlen und für den Umgang mit Geld. Ich bin dann zeitlich noch etwas zurück in die 1850er/1860er Jahre, und so kam der Beginn der Nationalstaaten dazu. Dann fiel mir das Buch von Florian Eitel in die Hände und ich habe Benedict Andersons „Die Erfindung der Nation“ gelesen. Damit habe ich dann gesehen, dass die Nation eine genauso imaginierte Gemeinschaft ist wie der Versuch der anarchistischen Bewegung, so eine Gemeinschaft zu schaffen. Diese Weltenbauung, diese Weltenwerdung mit all diesen neuen Technologien und Mitteln hat mich sehr interessiert. Aber gleichzeitig war mir wichtig, dass man keinen historischen Film machen und diese Zeit genau abbilden kann, sondern dass es ein Film über die Gegenwart ist.

Der Film zeigt die Verrichtungen der Uhrmacherinnen sehr genau. Wie haben Sie sich das angeeignet?

Der Regisseur Cyril Schäublin wurde 1984 in Zürich geboren. Er entstammt einer Familie von Uhrmacher:innen. In China studierte er Mandarin und Film, anschließend Regie an der Deutschen Film- und Fernseh­akademie Berlin (DFFB).

Sein Debütfilm „Dene wos guet geit“ hatte 2017 in Locarno Premiere und erhielt mehrere internationale Preise und Auszeichnungen. „Unruh“ ist sein zweiter Spielfilm.

Als ich klein war, hat meine Großmutter mir ihre Arbeit erklärt und ich habe es nicht verstanden. So wie Kropotkin es wohl auch nicht versteht. Ich verstehe es auch heute noch nicht wirklich. Wir haben mit Frauen gearbeitet, die heute als Uhrmacherinnen arbeiten. Die haben das gemacht und wir haben gefilmt. Wichtig war aber vor allem, dass die Herstellung einer Uhr komplex ist und dass es damals – wie Marx auch im „Kapital“ schreibt – nicht wirklich möglich war, das unter einem Dach zu zentralisieren. Im Titel haben wir uns ja auf das Herz der Uhr, diese Unruh, konzentriert.

Unruh“ ist wie der Vorgänger „Dene wos gut geit“ ein Film der geteilten Räume. Alle nutzen die gleichen Technologien, ringen aber zugleich um die Deutungshoheit, zum Beispiel über die Zeit, gehen aber sehr zivil miteinander um.

Was mich interessiert hat, war, wie sich die Weltenbindung außerhalb der behaupteten Zentren vollzieht. Die meisten von uns leben ja einfach vor sich hin, das zu zeigen, hat mich mehr interessiert als sogenannte Brennpunkte aus dem 19. Jahrhundert, wo es wirklich knallt. Die Welt ist überall wichtig. Jede Begegnung und jede Situation, in der sich Menschen befinden, ist wichtig für sie. Die Idee war, dem Raum zu geben, was als Peripherie gilt. Dort, scheint mir, ist alles ja umso furchtbarer und schlimmer. Ich weiß nicht, ob das ein Schweizer Phänomen ist, dass die freundliche Unterdrückung, diese fürsorgliche Gewaltausübung eigentlich nur effizienter ist als körperliche Gewalt.

Wofür war dann Peter Kropotkin als Figur wichtig?

Wenn man sich mit dieser Zeit in der Schweiz und der anarchistischen Gewerkschaftsbewegung auseinandersetzt, stößt man irgendwann auf Kropotkin. Ich habe dann in Kropotkins Memoiren seine Beobachtungen von diesen Uhrmacherateliers gelesen und später „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“. Ich war sehr angetan davon. Je mehr ich über die Person Kropotkin gesprochen habe, über die Frage nach einem Helden an sich, diesen Protagonismus, umso fragwürdiger schien mir gerade auch aus anarchistischer Perspektive die Konzentration auf so wenige Figuren in der Geschichte. Trotzdem war Kropotkin mir wichtig. Aber eben um ihn als einen von vielen zu zeigen. Man hat ja oft die Vorstellung von einer Vergangenheit in der Schweiz, wo nur Schweizer in lauter Dörfern gewohnt haben und so weiter. Wenn man Saint-Imier anguckt, hatte das Dorf in den 1850er Jahren ein paar Hundert Einwohner, in den 1880ern waren es schon fast 9.500. Das war eine Einwanderungssituation, da kamen Menschen zusammen.

Wie „Dene wos gut geit“ hat auch „Unruh“ eine Szene vor dem Film, die vor der eigentlichen Handlung steht. Was ist Ihnen an diesen Szenen wichtig?

„Unruh“. Regie: Cyril Schäublin. Mit Clara Gostynski, Alexei Evstratov u. a. Schweiz 2022, 93 Min.

Nach „Dene wos gut geit“ habe ich Ursula K. Le Guins „Die Tragetaschentheorie der Fiktion“ gelesen. Da spricht sie sehr schön von den Anfängen des Geschichtenerzählens und dass in den Beuteln, in denen die ersten Menschen gesammelt haben, die Dinge nebeneinander lagen. Ich finde es aber hilfreich, einen Haupthandlungsstrang, auch wenn er nur Alibistrang ist, am Anfang einfach so hinzulegen. Dann kann man davon ausgehend in die Nebenräume, in die Außenbezirke dieser Haupthandlung schauen. Letztlich sind das ja eh alles Haupthandlungen (lacht).

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