Hauptsache, die Flüchtlinge bleiben draußen

Am Mittwoch ist ein Flüchtlingsboot südlich der Stadt Pylos gesunken. 78 Leichen barg die griechische Küstenwache. Die EU zeigt, dass ihr zur Abschottung jedes Mittel recht ist

Das Flüchtlingsboot auf einer Aufnahme der griechischen Küstenwache Foto: Griechische Küstenwache/ap

Von Christian Jakob

Am Freitag legte die Amsterdamer NGO United ihre neue „Liste des Todes“ vor. Seit exakt 30 Jahren dokumentiert die antirassistische Initiative tote Flüchtlinge und Mi­gran­t:in­nen an den Grenzen Europas. Sie begann, lange bevor offizielle Stellen im Jahr 2014 anfingen zu zählen. 52.760 Einträge umfasst die Liste von ­United.

Tatsächlich sind es schon wieder mehr: 78 Leichen barg die griechische Küstenwache, nachdem am Mittwochmorgen ein Flüchtlingsboot südlich der Stadt Pylos gesunken war. 750 Menschen sollen sich auf dem Boot befunden haben, das von der Türkei aus in Richtung Italien unterwegs war. Es dürfte sich um eines der schlimmsten Unglücke dieser Art im Mittelmeer handeln. Genau erfahren wird man es wohl nie: Die Suche nach weiteren Leichen wurde am Freitag eingestellt.

Am Donnerstag berichtete der Spiegel, dass Flüchtlingen in Tunesien Boote aus zusammengeschweißten, rostigen Stahlplatten verkauft werden. Dringt in diese Wasser ein, sinken sie „wie ein Stein“. Für Holzboote hatte die tunesische Regierung zuvor eine Registrierungspflicht eingeführt. Fischer sollen ihre Holzboote nicht mehr an Flüchtlinge weitergeben.

Dem finan­ziell klammen Tunesien bietet die Europäische Union gerade Hunderte Mil­lio­nen Euro an, damit es die Abfahrten von Flüchtlingen über das Mittelmeer in Richtung Italien unterbindet.

So wird das Sterben weitergehen. Die Länder an und vor den Außengrenzen werden als Bollwerk weiter ausgebaut, egal was geschieht.

Als vor einem Jahr an einem einzigen Tag mindestens 37 Menschen an den Grenz­zäunen von Melilla getötet wurden, sagte der EU-Ratspräsident Charles Michel: „Wir unterstützen Spanien und alle Länder, die an vorderster Front die Grenzen der EU schützen, voll und ganz.“

Macht, was ihr wollt. Hauptsache, die Flüchtlinge bleiben draußen. Das ist die Botschaft.

Griechenland hatte im Februar 2020 mit Blendgranaten, dem Aussetzen von Schwimmkörpern auf dem offenen Meer und vermutlich auch mit scharfer Munition Tausende Menschen abgewehrt, die aus der Türkei die Grenze überqueren wollten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste damals in das Land und dankte Griechenland dafür, „in diesen Zeiten der europäische Schild“ zu sein.

Es war genau diese Zeit, in der Griechenland seine massenhaften Pushbacks von den Land- auf die Seegrenzen ausweitete. Erst kürzlich zeigte ein Video der New York Times, wie Asylsuchende, darunter ein Baby, von der griechischen Küstenwache zusammengetrieben und auf einem Floß im Meer ausgesetzt wurden. Und immer wieder berichten Helfer:innen, wie Seenotfälle im Mittelmeer von den Küstenwachen ignoriert werden. Zu solchen Praktiken fühlen die Außengrenzenstaaten sich durch den Rückhalt der übrigen EU-Mitglieder legitimiert. Das könnte auch bei der jüngsten Katastrophe eine Rolle gespielt haben.

Kriton Arsenis, ein ehemaliger EU-Abgeordneter der Pasok, besuchte die Überlebenden des Unglücks vom Mittwoch. Diese berichteten ihm, das Boot sei gesunken, als die griechische Küstenwache es Richtung italienische Gewässer gezogen hatte. In den sozialen Medien kursiert ein Video, das zeigen soll, wie Überlebende auch dem ehemaligen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras dies bei dessen Besuch der Überlebenden schildern.

Unfassbar? Es wäre jedenfalls nicht der erste Fall. Erst im Juli 2022 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Griechenland wegen eines solchen Vorfalls verurteilt. Im Januar 2014 war ein Boot mit 27 Flüchtlingen vor der griechischen Insel Farmakonisi gekentert, 11 Menschen starben. Die Überlebenden hatten angegeben, dass ein Schiff der griechischen Küstenwache mit sehr hoher Geschwindigkeit unterwegs gewesen sei, um die Flüchtlinge zurück in türkische Gewässer zu drängen. Griechenland musste 330.000 Euro Schadenersatz zahlen.

Und am Freitag berichtete die Initiative Alarm-Phone, dass die Küstenwache ihren Notruf wegen des am Mittwoch gesunkenen Boots ignoriert hatte. Das Alarm-Phone hatte die griechische Rettungsleitstelle am Dienstag um 16.53 Uhr per E-Mail wegen des Boots kontaktiert. In der Mail waren die Koordinaten des überladenen Schiffs angegeben, ebenso die Information, dass sich 750 Menschen an Bord befinden, sowie eine Telefonnummer, unter der die Passagiere kontaktiert werden konnten. „Sie bitten dringend um Hilfe“, heißt es in der E-Mail, die auch an Frontex und das Hauptquartier der Polizei ging. Acht Stunden später sank das Schiff.

Am Donnerstag reiste der Frontex-Direktor Hans Leijtens wegen des Unfalls zu einem Treffen mit der griechischen Küstenwache. Er wolle „besser verstehen, was geschehen sei“, schrieb Leijtens. Ihm kann geholfen werden. Was geschehen ist, ist, dass es für die Menschen keine legalen Wege gibt, weil der EU ihr Grenzschutz wichtiger ist als das Leben der Flüchtlinge.