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Immer mehr Geflüchtete kommen über die Oder nach Deutschland − durch Kriegsrussland, Belarus und Polen. Wie funktioniert diese „Ostroute“? Und wie geht die deutsche Seite mit den Geflüchteten um?

Ein weggeworfener Stiefel und Abfälle liegen im Gras

Hinterlassenschaften von Geflüchteten an der Brücke von Słubice nach Frankfurt (Oder)

Aus Frankfurt (Oder) Peggy Lohse
(Text und Foto)

Fünf Männer laufen über die Oderbrücke. Vom polnischen Słubice ins deutsche Frankfurt. Wie auf einer unsichtbaren Linie, mit ein paar Metern Abstand. Sie gehen nicht besonders schnell, nicht besonders langsam. Mit gesenktem Blick und hängenden Schultern. Hinter ihnen raucht ein Mann und filmt mit Handy, wie die fünf in die deutsche Polizeikontrolle laufen. Er telefoniert, setzt sich in den silbergrauen Van um die Ecke zur Brückenauffahrt. In der Böschung liegen verschlammte Gummistiefel und Daunenjacken, leere Deoroller und russische Krim-Fischdosen. So hinterlassen Flüchtende oft unterwegs verdreckte Sachen.

Die Bundespolizei stoppt die fünf Männer, markiert sie mit neongelben Armbändchen und bringt sie zur Registrierungsstelle. Ruhig und routiniert.

Mehrmals täglich spielt sich diese Szene ab. Für viele endet hier in Frankfurt (Oder) eine monatelange Flucht über Russland, Belarus, Polen nach Deutschland. Wer sind die Menschen, die hier ankommen? Wie funktioniert diese „Ostroute“, was kostet sie die Fliehenden? Was passiert mit den Ankommenden vor Ort? Die taz hat bei Flüchtlingshelfer:innen, der Bundespolizei und der Ausländerbehörde nachgefragt, mit Geflüchteten gesprochen und deren Fluchtgeschichten nachvollzogen.

Die östliche Migrationsroute, wie sie die EU-Grenzschutzagentur Frontex nennt, ist eine der am stärksten frequentierten neben Balkan- und Mittelmeerroute. Statistisch gesehen sterben und verletzen sich hier deutlich weniger Menschen. Russland und Belarus scheinen die Route über ihr Staatsgebiet zu fördern. Laut Bundespolizei Berlin kamen im Mai und Juni 2023 von gut 13.500 sogenannten unerlaubten Einreisenden knapp 4.500 über Polen nach Deutschland. 1.900 davon gingen nach Brandenburg, davon wiederum die Hälfte nach Frankfurt.

Tendenz steigend: Mitte Mai meldete die Bundespolizei allein im Stadtgebiet Frankfurt 200 Einreisen in einer Woche. Unter denen, die kamen, waren auch Aadil Habibullah, Isaad Qurban und Musa Rahimi. Ihre Namen sind geändert, weil sie Nachteile im laufenden Asylverfahren befürchten. Die drei Afghanen, alle Mitte 20, kennen einander nicht. Aber ihre Geschichten folgen einem ähnlichen Weg.

Abschied von Afghanistan

Af­gha­ner:in­nen sind nach Sy­re­r:in­nen die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe deutschlandweit, an der polnisch-deutschen Grenze sogar die größte. Im Land terrorisieren Milizen der Taliban die Bevölkerung, nehmen Frauen ihre Rechte, verfolgen, foltern und töten Männer, die mal für westliche Organisationen oder afghanisches Militär gearbeitet haben.

Aadil Habibullah zeigt Fotos von sich, auf denen er als selbstbewusster Sprecher eines Politikers bei Demonstrationen zu sehen ist. Nun sitzt er schüchtern mit hängenden Schultern in einem Café. Der Chef habe sich ohne ihn in die Türkei abgesetzt. Aadil floh im Herbst 2022, mit einem Freund, der früher mit deutschen Firmen zu tun gehabt hatte. Also: Ziel Deutschland.

Isaad Qurban verlor unter den Taliban seine IT-Firma und arbeitete am Kabuler Kaaj Higher Educational Center, das auch Frauen unterrichtete. Am 30. September 2022 sprengte sich dort ein Selbstmordattentäter in die Luft, seitdem organisierte Isaad Mädchenunterricht in Privaträumen, im eigenen Haus oder bei Nachbarn.

Er zeigt Handybilder vom Tag des Anschlags und seiner Geheimschule: Etwa 50 Jugendliche sitzen gedrängt auf dem Boden. „Wir lernten zusammen, hoffnungsvolle Personen zu bleiben“, sagt Isaad und lächelt auch jetzt zuversichtlich.

Doch im März 2023 flog die Mädchenschule auf. Die Taliban verstärkten die Verfolgung von Aktivisten. Isaads Familie sagte ihm: „Wenn du bleibst, bringst du uns alle um.“ Sein Bruder war in Dresden, also floh auch er in Richtung Deutschland.

Viele Flüchtende aus dem Nahen Osten kommen mit Studienvisa nach Russland, meist an wenig renommierte Hochschulen im Süden. „In Kabul und Teheran gibt es überall Agenten, die solche Visa für Russland vermitteln“, sagt Isaad, der sein Visum im Iran kaufte.

Manche Anbieter sind im Internet zu finden. Ein Reisebüro in Teheran wirbt damit, dass die Visaregeln zwischen Iran und Russland Anfang des Jahres erleichtert worden seien. Andere erläutern schrittweise den Weg zur Studienausreise nach Russland und werben mit Schnupperreisen.

Aadil kam im Herbst 2022 an die Universität in Machatschkala, Kaukasusrepublik Dagestan. Für zwei Semester, Wohnheimplatz und Visum zahlte er 4.000 Dollar an den Vermittler. Andere, sagt er, forderten dieselbe Summe für nur ein Semester. Diese „Agenten“ in Afghanistan hätten oft selbst in Russland studiert, verfügten über Kontakte. Aadil absolvierte einen Russischkurs. Ein Foto vom April 2023 zeigt ihn bei einem Literaturwettbewerb.

Da muss Isaad gerade in Russland, an seiner Universität in Belgorod angekommen sein. Dort, von wo aus seit eineinhalb Jahren die Ukraine beschossen wird, trifft er auf den Krieg: „Plötzlich gab es Alarm und Explosionen, das war heftig.“ Isaad sah zu, dass er wegkam.

Musa Rahimi war da schon mit seinem Studium fertig. Zahnmedizin in Ufa, Republik Baschkortostan im Süden des Urals. Als Student hatte er einen Aufenthaltstitel bekommen, nun drohte ihm die Mobilisierung. Offenbar zwingen russische Sicherheitskräfte auch Migranten an die Front. Musa machte sich auf den Weg zu einem Freund in Berlin.

In Moskau fanden die drei „Taxi-Transfers“. 4.000 bis 6.000 Dollar für die Fahrt an die deutsche Grenze. Sie zahlten in Moskau. Geld hatten sie dank ihrer früheren Jobs.

Schläge und Tritte am Grenzzaun

Von Moskau ging die Fahrt nach Belarus. Aadil kam direkt zu einer Sammelunterkunft, bewacht von belarussischen Uniformierten, nahe der Grenze zu Polen, wo er Wasser, Brot und ein paar Stunden Ruhe bekam, bevor er nachts zum Grenzzaun gebracht wurde. Isaad und Musa stoppten in der Hauptstadt Minsk, wo ihre Fahrer auf Infos warteten, wann und wo sie die Flüchtenden an die Grenze bringen sollten. Musa wartete drei Monate.

Vor dem Grenzübertritt ins Niemandsland, berichten alle drei, machten ihnen Uniformierte mit Schlägen und Tritten deutlich, dass sie bloß nicht nach Belarus zurückkehren sollten. Aadil zeigt Fotos von Blutergüssen. Musa schaut betreten zu Boden, die Schläge sind ihm peinlich.

Isaad erzählt: „Unsere Gruppe, vier Personen, bekam eine Leiter und eine Metallschere.“ Damit sollten sie den 5-Meter-Grenzzaun mit Stacheldraht zu Polen überwinden. Das gelang nicht gleich: „Wir saßen tagelang fest, ohne Essen und Trinken. Wir filterten Bachwasser durch unsere T-Shirts.“

Hilfe sei überraschend von polnischer Seite gekommen. Grenzschützer reichten Essen durch den Zaun. Jedoch im Tausch für die Leiter, ohne die der Zaun kaum zu überwinden ist. Letztlich grub Isaads Gruppe einen Tunnel. Viele verletzten sich am Grenzzaun: Daher die Knochenbrüche, Prellungen und Schnittwunden, die deutsche Po­li­zis­t:in­nen bei der Ankunft oft feststellen.

Während Aadil und Isaad es beim ersten Versuch nach Polen schafften, erzählt Musa, er sei mehrmals vom polnischen Grenzschutz ins Niemandsland zurückgebracht worden. Diese Pushbacks sind nach europäischem Recht illegal.

Um den Grenzschützern zu entgehen, muss es hinter dem Zaun schnell gehen. Ohne Rücksicht auf Müdigkeit oder Verletzungen in den Wald rennen − im „Dschungel“, wie ihn Geflüchtete nennen, verstecken. Nachts Ortschaften erreichen, um Handys aufzuladen, Fahrer zu kontaktieren und weiter gen Westen gebracht zu werden.

Im Dunkeln oder bei Bewölkung fehlt jede Orientierung. Der ostpolnische Wald bei Białowieża ist der letzte Urwald Europas. Isaad verlor hier seine Gruppe, traf sie erst in Frankfurt wieder. Tagelang suchte er den Weg. Erst als die Sonne schien, erkannte er, wo Westen sein musste.

Er zeigt seinen Irrweg in der Historie seiner Google-App. Ein wildes Hin und Her und im Kreis herum zwischen Narewka und Hajnówka. Die Städtchen, 20 Kilometer vom Grenzzaun entfernt, gelten als Treffpunkte für Fliehende und Fahrer. Wer seine Kontaktpersonen nicht mehr erreicht, zahlt von hier bis an die 700 Kilometer entfernte deutsche Grenze 2.000 Euro pro Auto beziehungsweise 500 Euro pro Person.

Die Flüchtenden nennen es „Taxi“, die Polizei „Schleuser“. Oft sind es Taxifahrer aus Georgien oder der Ukraine in Polen. Auch in Deutschland angekommene Syrer werden oft Fahrer. Hauptmotivation: schnelles Geld.

Musa wurde noch mal in Polen aufgegriffen, verbrachte zwei Monate wegen „illegalen Grenzübertritts“ in einem geschlossenen Ausländerzentrum. Als er in eine offene Unterkunft verlegt wurde, floh er weiter gen Berlin.

Letztlich hatten alle drei Glück. Denn auch auf der Ostroute gibt es immer wieder Tote. Zuletzt wurden am 20. Juni − am Welttag der Geflüchteten − laut Ak­ti­vis­t:in­nen die Körper zweier seit März Vermisster in einem Fluss bei Narewka gefunden. Damit stieg die Zahl der Grenztoten an der belarussisch-polnischen EU-Außengrenze seit Herbst 2021 auf 485.

„Nichts hat sich beruhigt“

Wenn Flüchtende wie Aadil, Isaad und Musa schließlich die deutsche Bundespolizei erreichen, haben sie es geschafft. Sie darf zwar anhalten, kontrollieren, befragen und zur Registrierung bringen. Zurückweisungen nach Polen, wie sie in Einzelfällen bekannt wurden, sind aber nicht erlaubt. Das würde sich erst mit „stationären Grenzkontrollen“ ändern, die sich die Innenminister in Brandenburg und Sachsen (beide CDU) wünschen, Bundesministerin Nancy Faeser (SPD) aber ablehnt.

Vielmehr geht die Bundespolizei gegen Schleusernetzwerke vor. Mit polnischen Kol­le­g:in­nen nehmen sie nahezu täglich Verdächtige fest. Manche solcher Fahrer posten Übergabevideos in Socialmedia-Kanälen, um ihren „Service“ zu bewerben. Die Profile führen zu Chats und Fahrerkontakten. Die Netzwerke dahinter sind aber kaum zu erreichen, auch Flüchtende haben nur mit den Ausführenden zu tun.

Pressemeldungen der deutschen Polizei informieren häufig darüber, dass aufgegriffene Personen ein gültiges Visum aus Russland besäßen, das auch in Belarus gültig ist. Offiziell liegen der Bundespolizei zur Rolle Russlands „keine Erkenntnisse“ vor. Häufigkeit, Organisation und Preise lassen jedoch auf ein gewaltiges Business hinter der Migrationsroute schließen.

Und ein Abflauen ist nicht zu erwarten. Brandenburgs Ausländerbehörde erhöht darum weiter die Aufnahmekapazitäten und drängt auf schnellere Verteilung in die Kommunen. Dort allerdings regt sich Unmut. So warnte Frankfurts Oberbürgermeister René Wilke (Linke) jüngst in einem Interview, das soziale Gefüge der Stadtgesellschaft werde überstrapaziert. „Dann knallt es. Das dürfen wir nicht riskieren“, meint Wilke.

Bei „knallen“ denkt man in Frankfurt an den Pablo-Neruda-Block, den kleinen Plattenbaukiez auf einem Hügel über dem Zentrum. Im Herbst 2022 war er wegen Messerangriffen und Schlägereien zwischen migrantischen Gruppen in den Schlagzeilen. In Sozialwohnungen leben hier zwischen älteren Deutschen, die teils schon seit Jahrzehnten hier wohnen, ebenso viele Nichtdeutsche aus Polen, der Ukraine, dem Nahen Osten und Afrika. Es wird häufig ein- und ausgezogen.

Claudia Eggert ist hier Treffleiterin der Guten Stube des Vereins Lebenshilfe. „Die eine Hälfte der Bewohner lebt hier gern und bekommt von Schwierigkeiten nichts mit, die andere Hälfte hat Angst“, sagt sie, „es ist schon ein Brennpunkt.“ Sie selbst öffne die Stube am späten Abend nicht mehr, um Mitarbeitende zu schützen.

Im Dunkeln geht sie nicht mehr raus

Wenn Flüchtende schließlich die deutsche Bundespolizei erreichen, haben sie es geschafft. Sie darf zwar anhalten, kontrollieren, befragen und zur Registrierung bringen. Die direkte Zurückweisung nach Polen ist aber nicht erlaubt

Eine davon ist Regina, die ehrenamtlich Schülernachhilfe anbietet und in einem der Wohntürme lebt. Ihren Nachnamen möchte sie nicht veröffentlicht sehen. „Die Polizei ist oft da, im Dunkeln gehe ich nicht mehr raus“, sagt sie. Etwa eine Schlägerei pro Monat gebe es in ihrem Block. Andererseits: „Viele sind auch freundlich und hilfsbereit.“ Sie lerne viel, zum Beispiel über den Islam.

Probleme sehen Claudia und Regina im Frust durch langes Nichtstun während der Asylverfahren. Das bestätigt ein Nachbar, der als Bundespolizist arbeitet und privat Geflüchtete durch die deutsche Bürokratie begleitet. Den Menschen würden Steine in den Weg gelegt bei Arbeitssuche und Integration, so landeten sie schnell bei Alkohol oder anderen Drogen.

Würden die von Brandenburg und Sachsen geforderten stationären Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze eingerichtet, würden die Flüchtenden, um der Gefahr einer Zurückweisung zu entgehen, gefährlichere Wege nehmen. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Toten in der Oder schwimmen, befürchten die Helferinnen.

„Sie sollen legal ankommen, Verfahren müssen schneller gehen und die Ergebnisse umgesetzt werden“, sagt Claudia. Und Regina: „Offene Grenzen sind doch die Errungenschaft der EU. Als Gemeinschaft müssen wir uns alle an Verteilung beteiligen, sonst ist die Gemeinschaft nichts wert.“

Aadil Habibullah, Isaad Qurban und Musa Rahimi stehen nun am Anfang ihrer Asylverfahren. Aadil sucht billige Kochtöpfe, um für sein Achterzimmer in der Erstaufnahme zu kochen. Isaad gibt Online-Unterricht für Mädchen in Afghanistan. Musa ist in Berlin, er muss für die Anerkennung seines in Russland erworbenen Universitätsabschlusses sorgen.

An einem Junisamstag treffen sich die drei bei einem Infonachmittag. Dutzende Af­gha­ner:in­nen verfolgen in einer Frankfurter Turnhalle die Präsentation zu Asylrecht und Alltag in Deutschland. Es referiert ein Aktivist, der als ehemaliger Bundeswehrdolmetscher 2015 nach Deutschland kam und schon Hunderte Geflüchtete begleitete. Seine Lieblingsregel: „1. Sprache, 2. Sprache, 3. Sprache.“ Müdes Nicken.

Dann stöpselt jemand afghanische Musik in die Boxen. Die Schüchternen beginnen zu tanzen. Erst einzeln am Rand, bald im großen Kreis. Sie lachen gelöst. Wissen nun auch vom Abschiebestopp nach Afghanistan, der Aktivist hat es ihnen erzählt.

Wenn Aadil, Isaad und Musa jetzt an ihre Flucht denken, wundern sie sich: „Unglaublich, wenn man das jetzt erzählt, klingt das alles so leicht!“