Demokratieaktivistin über Hamas-Terror: „Wir sind zu spät aufgewacht“

Shikma Bressler ist eine wichtige Stimme der israelischen Demokratiebewegung. Wie blickt sie auf den Terror? Und was erwartet sie für die Zukunft?

Portrait von Shikma Bressler. Sie steht neben einer Israelfahne, auf ihrem T-shirt ist eine gereckte Faust zu sehen

Die Physikerin Shikma Bressler gehört zu den zentralen Akteuren der Protestbewegung Foto: Amir Cohen/reuters

wochentaz: Frau Bressler, wie fühlen Sie sich?

Shikma Bressler: Furchtbar. Unsagbar traurig. Und unsagbar wütend. Wir protestieren seit fast einem Jahr und warnen, dass nichts in diesem Land funktioniert, dass die Regierung sich nicht kümmert. Und dass dies auch das Land bedroht. Aber wir haben uns nicht vorstellen können, dass die Situation so schlimm ist. Wir sind zu spät aufgewacht und haben nicht erkannt, wie tief das Problem sitzt. Für die Menschen im Süden Israels nahe der Grenze zu Gaza war es zu spät. Wir hätten das Land schon vor fünf Jahren retten sollen. Dann wären wir nicht in diese Situation geraten.

43, ist Physikerin und arbeitet am Weizmann-Institut für Wissenschaften in Rechovot, Israel. Sie gehört zu den wichtigsten Köpfen der israelischen Demokratiebewegung, die jeden Samstag Hundertausende auf die Straße brachte.

Was meinen Sie damit?

Wir wissen schon seit vielen Jahren, dass Minister auf der Grundlage persönlicher Loyalität zu Netanjahu und nicht zur israelischen Gesellschaft ernannt werden, dass Leute ohne jegliche Fähigkeiten und Fachwissen wichtige Positionen bekommen. Der Schaden war schon vor der jetzigen Regierung so tief. Und im vergangenen Jahr hat sich alles so schnell beschleunigt. Wir hätten das vielleicht früher begreifen sollen. Vielleicht würden sich dann die Menschen in der schlimmsten Zeit ihres Lebens wenigstens nicht vom Land im Stich gelassen fühlen.

Die Reservesoldat*innen, die ihren Dienst angesichts des geplanten Staatsumbaus verweigert hatten, sind zurück im Dienst. Ist das Land nach dem Angriff wieder vereint?

Wir alle wissen, dass wir von außen angegriffen wurden, und dass wir kämpfen und gewinnen müssen. Es steht außer Frage, dass das Land in dieser Frage geeint ist, aber das löst nicht den Konflikt, den wir vorher hatten. In den sozialen Medien lese ich, dass die meisten Sol­da­t*in­nen jetzt ihre eigene Agenda beiseiteschieben. Aber ich bin nicht dabei, also kann ich das nicht verifizieren. Umfragen zeigen, dass die Unterstützung für Netanjahu implodiert ist. Die allermeisten Israelis denken, dass es im Grunde an ihm liegt, was jetzt passiert ist. Und an der Armee. Aber natürlich wirkt auch Netanjahus Vergiftungsmaschinerie noch gut. Schauen Sie sich nur unseren „Kanal 14“ an, der nur die Spitze des Eisbergs des gesamten Fake-News-Systems ist. Rund 8 Prozent der Israelis bekommen daher ihre Informationen. Und dort hört man, dass die Linken an alldem schuld sind und dass sie die Leute verraten haben. Der Sender gehört einem von Netanjahus Anhängern. Und das ist wirklich nur ein kleiner Teil dessen, was in den sozialen Medien kursiert.

Geben auch Sie Netanjahu die Schuld für das, was passiert ist?

Ich mache die Hamas für den Terrorangriff verantwortlich. Von Anfang bis zum Ende. Sie sind die Ungeheuer hier, die uns in IS-Manier angegriffen haben. Aber darüber hinaus denke ich, dass wir uns ansehen müssen, wie wir reagiert haben, also das Militär und die Geheimdienste. Die gesamte Vorstellung davon, wie man diese Gebiete im Süden verteidigen kann, ist im Grunde zusammengebrochen. Wir hatten eine eigene Ministerin für Nachrichtendienste, Gila Gamliel – aber was war ihre Rolle? Sie hat nichts mit Geheimdiensten zu tun, verfügt über keinerlei Fachwissen. Wie zum Teufel konnte Netanjahu sie für diese Rolle nominieren? Und wo bleibt die interne Kritik daran, wenn niemand diese Fragen stellt?

Das hat keiner getan?

Der Einzige, der irgendwann einmal gesagt hat, dass der geplante Staatsumbau das Land bedroht, war Verteidigungsminister Joaw Galant – und der wurde dafür gefeuert, dass er das gesagt hat. Jetzt sehen wir, wie schlecht das Land funktioniert. Also für die Reaktion gebe ich Netanjahu die Schuld, denn er hat das ganze System verkommen lassen.

Benny Gantz ist mit seiner zentristischen Partei einer Notstandsregierung beigetreten. Das könnte in gewisser Weise Netanjahus Position stärken. Wie schätzen Sie das ein?

Netanjahu ist eindeutig nicht in der Lage, diesen Krieg allein zu führen. Aber er wird, das ist völlig klar, seinen Posten nicht aufgeben, weil das alles ist, woran er überhaupt interessiert ist – um seine eigene Zukunft zu sichern. Deshalb ist es besser, dass gute Leute mit der richtigen Erfahrung und Expertise neben ihm stehen. Aber das hat eine sehr seltsame Situation geschaffen: Wir haben jetzt zwei Kabinette, eines mit normalen Leuten und eines mit verrückten Leuten.

Zwei Kabinette?

Ja, ein Kriegskabinett, in dem Netanjahu, Gantz und Galant sitzen. Und parallel dazu das reguläre Kabinett, in dem auch Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir sitzen. Das Einzige, was sie gemeinsam haben, ist der Ministerpräsident, dem niemand traut und den niemand für fähig hält. Was kann dabei schon Gutes herauskommen? Es geht gerade um die Entscheidung, ob unsere Söhne, Ehemänner und Brüder nach Gaza geschickt werden. Und wir alle wissen, dass das bedeutet, dass viele von ihnen nie wieder zurückkommen werden. Es ist also besser, dass dort wenigstens ein paar vernünftige Leute sind.

Also eine angemessene Lösung?

Es ist die beste Lösung unter den schrecklichen Möglichkeiten, die es gibt. Dabei könnte es noch eine brauchbare Möglichkeit geben: Netanjahu könnte gehen, und wir hätten eine normale Regierung.

Wir wissen nicht, wie Israel und die ganze Region nächste Woche oder in den nächsten Monaten aussehen werden. Ich frage trotzdem: Wie, glauben Sie, wird es mit der Protestbewegung weitergehen?

Der Protest in der Form, in der wir ihn in den vergangenen 40 Wochen geführt haben, ist vorbei. Wir befinden uns in einem Krieg. Wir müssen diesen Krieg gewinnen. Und das ist im Moment das Wichtigste. Wir müssen gewinnen. Und wir werden gewinnen, denn die israelische Gesellschaft hat im vergangenen Jahr und natürlich auch davor bewiesen, dass wir sehr stark sind. Es ist nur unsere Führung, die total verkommen ist. Aber was wir in den vergangenen Tagen gesehen haben, erfordert etwas völlig anderes als die bisherige Protestform. Der Aufschrei der Menschen, die dieses Massaker im Süden überlebt haben, die Soldat*innen, die ihre Freun­d*in­nen sterben gesehen haben, Familien, deren Angehörige entführt, vergewaltigt oder getötet wurden, dieser Aufschrei wird alles andere im Land übertönen. Ihre Stimmen sollten gehört werden. Und wir werden für sie da sein.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Sie glauben also, dass Netanjahu einfach bleiben wird, die Demokratiebewegung ist zu Ende und alles, was bleibt, ist dieser Schmerz?

Der Schmerz ist ja unmittelbar mit dem Verlust der Demokratie verbunden. Demokratie bedeutet ja auch, dass der Staat für die Gesellschaft des Landes da ist. Dieses Land hat auf so vielen Ebenen nicht für seine Bevölkerung gearbeitet – und das ist uns nun auf grausame Weise ins Gesicht geflogen. Man muss nur zuhören, worüber die Leute gerade reden: wie sie vom Land vernachlässigt, im Stich gelassen und verraten wurden. Es geht also um mehr als den jüngsten Terrorangriff. Es geht um alles, wofür wir in den vergangenen Jahren gekämpft haben. Wir müssen nur die richtigen Worte finden, um das zu beschreiben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.