Die Angst am Horizont

Israel hat einen massiven iranischen Luftangriff abgewehrt, die rund 300 Flugkörper konnten gestoppt werden, auch dank Mithilfe seiner Verbündeten. Doch wie geht es weiter? Steht ein israelischer Gegenschlag bevor?

In Jerusalem sind in der Nacht auf Sonntag Explosionen zu sehen, als Israels Luftabwehr iranische Flugkörper abschießt Foto: Saeed Qaq/anadolu/picture alliance

Aus Jersusalem Felix Wellisch

Es war ein Angriff mit Ankündigung: Als in Jerusalem um 1.42 Uhr in der Nacht auf Sonntag die Sirenen aufheulen, sitzen viele schon auf gepackten Notfalltaschen. Seit mehreren Stunden ist bekannt, dass Iran seine Drohungen wahr gemacht und mehrere hundert Drohnen und Raketen in Richtung Israel abgefeuert hat.

Minuten später steigen Dutzende Menschen nahe der Jerusalemer Altstadt die Treppe in einen Luftschutzraum hinunter. In ihren Rucksäcken tragen sie Wasser, Decken, Powerbanks, alles, was es braucht, um ein paar Tage durchzuhalten. „Wir wissen nicht, wie lange es diesmal dauert, das ist etwas anderes als die Raketen der Hamas“, sagt eine Frau mit dem Kopftuch religiöser Jüdinnen, auf dem Arm ihren dreijährigen Sohn.

Mit großen Augen beobachtet das Kind die Nachbarn, die sich entlang der Wände des schmalen Raums niedergelassen haben. Draußen ziehen die Lichtpunkte der Abwehrraketen durch den Nachthimmel über dem hell erleuchteten Tempelberg, gefolgt vom dumpfen Wummern mehrerer Explosionen.

Erstmals hat der Iran, der Israel seit der Islamischen Revolution von 1979 feindlich gegenübersteht, einen direkten Angriff auf israelisches Gebiet gestartet. Bereits am Vortag setzten Irans Revolutionsgarden den Containerfrachter „MCS Aries“ in der Straße von Hormus fest. Das Schiff gehört zur Unternehmensgruppe eines israelischen Milliardärs. Zeitgleich mit dem iranischen Luftangriff führten auch die pro-iranische Hisbollah-Miliz im Libanon sowie die Huthi-Rebellen im Jemen Angriffe gegen israelische Ziele etwa auf den Golan-Höhen aus.

Am frühen Morgen kommt dann die Entwarnung: Von den rund 300 Flugkörpern, die der israelischen Armee zufolge von Iran auf den Weg geschickt wurden, seien 99 Prozent abgefangen worden – der Großteil, bevor er das israelische Staatsgebiet erreichte. Unterstützung bei der Abwehr gab es von den USA, Großbritannien, Frankreich und Jordanien. Am Morgen öffneten Israel, Jordanien, Irak und der Libanon ihre Lufträume wieder, die sie zwischenzeitlich geschlossen hatten.

Die drängende Frage ist nun: Wie geht es weiter? In der Vergangenheit wurde die langjährige Feindschaft zwischen Iran und Israel über Stellvertreter wie die von Iran unterstützte Hisbollah im Libanon oder die Huthis im Jemen ausgetragen. Teheran hatte nach dem Hamas-Überfall am 7. Oktober mehrfach betont, keinen Krieg mit Israel zu wollen. Ein direkter Angriff Irans galt wegen des immensen Eskalationspotenzials bisher als eher unwahrscheinlich, selbst nach der Bombardierung des iranischen Konsulats in Damaskus am 1. April, bei dem zwei hochrangige Generäle der iranischen Revolutionsgarden getötet wurden.

Israel bringt der Angriff in ein Dilemma: Zur Sicherheitsdok­trin des Landes gehört es, auf jede Attacke zu reagieren. Eine weitere Eskalation in der Region bringt jedoch auch Israel in Gefahr. „Die Frage ist nicht, ob Israel reagieren wird“, sagt Liora Hendelman-Baavur vom Alliance Center for Iranian Studies in Tel Aviv. Seit Saddam Hussein Anfang der 90er Jahre Raketen auf Tel Aviv feuern ließ, habe kein souveräner Staat das Land angegriffen. „Die Frage ist, wann, wo und wie.“

„Wir brauchen jetzt einen vernichtenden Angriff“

Itamar Ben-Gvir, Innenminister Israel

Die Spannungen verringern könnte die Tatsache, dass Israel offenbar kaum Schäden zu beklagen hat. Von einem „sehr bedeutenden strategischen Erfolg“ sprach Armeesprecher Daniel Hagari. Auch Hendelman-Baavur sieht darin eine Chance auf Deeskalation: „Dass Israel sich so effektiv gegen den Angriff eines Gegners wie den Iran verteidigen kann, könnte ein ausreichender Beweis für die Fähigkeit der israelischen Streitkräfte und deren Abschreckungspotenzial sein.“

Ähnlich sieht das offenbar US-Präsident Joe Biden. Er versicherte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einem halbstündigen Telefonat am frühen Morgen, die Unterstützung der USA für Israel sei „eisern“. Zugleich warnte er laut einem Bericht der Nachrichtenseite Axios, die USA würden einen Gegenangriff auf Iran nicht unterstützen. „Sie haben gewonnen, nehmen Sie diesen Sieg an“, sagte Biden demnach. Laut dem US-Sender NBC herrscht in der US-Regierung Sorge, Israel könne etwas unternehmen, „ohne die möglichen Konsequenzen zu bedenken“.

Feuer und Flamme: In Teheran feiern Anhänger des Regimes den Angriff Foto: Atta Kenare/afp

„Wir brauchen jetzt einen vernichtenden Angriff“, schrieb der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, bei X. Doch die Entscheidung über militärische Schritte mit Blick auf Iran hänge an vielen Faktoren, sagt Hendelman-Baavur: Der seit sechs Monaten andauernde Krieg in Gaza und die aufgrund der extremen Zerstörung und des Leids der Zivilbevölkerung schwindende Unterstützung der wichtigsten Verbündeten spielten dabei eine Rolle. „Es gibt auch moderate Teile der Regierung, die eine ausgewogene Antwort zum richtigen Zeitpunkt wollen.“

Die Regierung in Teheran scheint auf eine milde Antwort Israels zu hoffen: „Die Angelegenheit kann als abgeschlossen betrachtet werden“, schrieb die ständige Vertretung Irans bei den Vereinten Nationen beim Onlinedienst X. Sollte Israel zurückschlagen, wäre die Antwort „sehr viel größer“, sagte Armeechef Mohammed Bagheri im staatlichen Fernsehen. Den USA drohte er mit Angriffen auf US-Stützpunkte, sollten sie einen israelischen Gegenangriff unterstützen.

Einiges deutet darauf hin, dass ein israelischer Gegenschlag zumindest nicht unmittelbar bevorsteht. Zum einen zeigt der iranische Angriff, dass Israel sich trotz der Kritik wegen der Kriegsführung in Gaza noch immer auf seine Verbündeten verlassen kann. Ein unmittelbarer Rückschlag dürfte diesen Gewinn wieder verspielen. Zudem trifft sich der UN-Sicherheitsrat am Sonntagnachmittag (Ortszeit) in New York auf Antrag Israels. Die New York Times berichtete am Sonntag unter Berufung auf einen israelischen Vertreter, dass „Israels Antwort mit seinen Verbündeten koordiniert werden wird“.