Ampelkritik als Modus Operandi

Beim Bundesparteitag in Berlin inszeniert sich die FDP als marktradikale Partei. Den Stress in der Regierung will sie nicht verstärken, ein paar Seitenhiebe bleiben jedoch nicht aus

Wirkt wie ein Dozent für Volkswirtschaftslehre: FDP-Chef Christian Lindner beim Bundesparteitag am Samstag in Berlin Foto: Hannes P Albert/dpa

Aus Berlin Cem-Odos Güler
und Stefan Reinecke

Alaa Khal sagt, die Rede des FDP-Chefs habe ihn zu Tränen gerührt. Vor vier Tagen habe er einen Anruf aus dem Büro Christian Linders erhalten und sei auf den Parteitag der Liberalen in Berlin eingeladen worden. Lindner erwähnt den jungen Unternehmer und Politikwissenschaftler, der 2015 aus dem kurdischen Qamischli nach Deutschland flüchtete, in seiner Rede. „In Deutschland haben wir Talente, die es schaffen wollen, auch ihnen machen wir es bisweilen schwer“, ruft der FDP-Vorsitzende am Samstag in den Saal mit den 660 Delegierten und meint damit Khal. Der 30-Jährige sagt im Anschluss: Der Finanzminister sei einer, der etwas anpacken will. FDP-Mitglied will der junge Mann aus Frankfurt an der Oder aber trotzdem nicht werden.

Der Andrang zum FDP-Parteitag ist groß. Vor wenigen Tagen stellten die Liberalen ein Papier für eine sogenannte Wirtschaftswende im Land vor, das aus Reihen der Opposition als ein Scheidungspapier in der Ampelkoalition gelesen wurde – der Parteitag segnete die Vorschläge am Wochenende mit großer Mehrheit ab. Worte der Scheidung aus dem Ampelbündnis sind auf dem Parteitag dagegen kaum zu hören. Es scheint, als habe die FDP im Hadern mit der eigenen Regierungsarbeit endgültig ihren Modus Operandi gefunden.

Mehr als ein Dutzend Mal betonte Lindner die „Wirtschaftswende“. Um die Konjunktur wieder in Gang zu bekommen, wollen die Liberalen die Rente mit 63 abschaffen, Bürgergeldempfänger mehr sanktionieren, den Solidaritätszuschlag vollständig abschaffen und Überstunden steuerfrei stellen. Bei seiner Rede wirkt Lindner wie ein Dozent für Volkswirtschaftslehre: In der Halle am Berliner Gleisdreieck-Park zeigt er Tabellen mit dramatisch nach unten weisenden Konjunkturdaten.

Die FDP erhofft sich von ihrem Parteitag dringende Impulse, um bei den anstehenden Wahlen in diesem Jahr nicht unterzugehen. Die Partei steht in Umfragen dauerhaft zwischen 4 und 6 Prozent und ist seit dem Antritt in der Koalition mit SPD und Grünen zuverlässig aus Landesregierungen und Landtagen geflogen. Das Papier zur Wirtschaftswende möchte die Partei als mehr als eine Pressemitteilung verstanden wissen, die ihre Anwesenheit in der Regierung dokumentiert. In den Sitzreihen betonen die Delegierten immer und immer wieder, dass das neue FDP-Programm nun seinen Weg in den Bundestag finden muss. Die Wirtschaftswende soll jetzt das neue, identitätsstiftende Schlagwort sein, mit dem die Sinnkrise und Wahlbaisse überwunden wird.

Lindner muss dafür einen nicht unkomplizierten Spagat vollführen: die FDP als marktradikale Wirtschaftspartei inszenieren, ohne die SPD mit Fundamentalkritik an Bürgergeld und Rente mit 63 noch weiter zu reizen, also Diplomatie und Provokation mischen. Denn das Ende der Ampel, das CDU und CSU aus eigenem Interesse beschwören, will die FDP-Spitze nicht. Derzeit nicht.

Ohne Wirtschaftswende und Wachstum, so Lindners trickreiche Begründung, werde man dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht standhalten. Die wachsenden Kosten für das Militär könne man nicht durch eine Aufhebung der Schuldenbremse finanzieren. Sondern nur, so das Mantra, durch Wachstum. Das erscheint in der Rede des FDP-Chefs als eine Art Wundermittel, das soziale Gerechtigkeit schaffe und eben die geopolitische Rolle Deutschlands sichere. Auch die Demokratie, gefährdet durch die AfD, könne effektiv nur durch Wirtschaftswachstum geschützt werden. „Die Wirtschaftswende ist das beste Demokratiefördergesetz, das man haben kann“, ruft Lindner in den Saal.

Die Wirtschaftswende soll das neue, identitätsstiftende Schlagwort sein

Es gehe nun darum, die einzelnen Maßnahmen, die Lindner vorgestellt habe, in Gesetze zu bringen, sagt Nicole Westing, FDP-Abgeordnete für den Rhein-Sieg-Kreis in Nordrhein-Westfalen, der taz. Als Problem sieht sie, dass 850.000 Frauen in Deutschland nicht arbeiten gingen, weil sie keine passende Kinderbetreuung vorfänden. Das 12-Punkte-Papier sieht sie in ihrer Gesamtheit, trotz der dort proklamierten Einsparungen, als ein geeignetes Mittel, die Arbeitsbereitschaft in Deutschland zu erhöhen. Möglich sei zum Beispiel, das geplante Budget für die Kindergrundsicherung direkt in Schulen und Kinderbetreuung zu investieren. In diese Kerbe schlägt auch Lindner. Die Kindergrundsicherung habe „das Stadium der Absurdität“ erreicht, lästert der FDP-Chef. Was die grüne Ministerin Lisa Paus anstrebe, verhindere, dass Leute arbeiten gehen, und schaffe nur überflüssige neue Bürokratie.

Susanne Kayser-Dobiey, Delegierte aus Frechen, äußert auf dem Parteitag gegenüber der taz leise Kritik an dem 12-Punkte-Papier. Ihr gefalle der Duktus des Vorschlags zur Wirtschaftswende nicht, wenn dort von Kürzungen der Sozialleistungen die Rede sei. „Ich verstehe den Impuls, aber das hilft doch den Arbeitgebern nicht.“ Grundsätzlich stehe dort aber trotzdem „viel Richtiges“ drin. Die Stimmung in der Partei beschreibt sie als „kämpferisch“. Die FDP sei, was die Umfragen betreffe, „Kummer gewohnt“ und könne damit besser umgehen als die SPD oder die Grünen.