„Das ist Gift für die Demokratie“

Franz Müntefering hat mit seiner Kapitalismuskritik Recht, auch wenn sie theoretisch ein wenig schwach ist. Die Frage ist doch: Was kann Politik noch tun, wenn das mobile Kapital sie erpressbar macht? Endlich wird das diskutiert

taz: Herr Offe, was ist eigentlich Kapitalismus?

Claus Offe: Die Frage ist Stoff für ein ganzes Sommersemester. Kurz gesagt: Kapitalismus charakterisiert, dass Arbeit ver- und gekauft wird. Die Vermarktung von Arbeitskraft ist das zentrale Merkmal von Kapitalismus.

SPD-Chef Müntefering kritisiert den „Raubtierkapitalismus“. Macht Müntefering nur Wahlkampf oder will er eine echte, inhaltliche Debatte?

Ich möchte nicht ausschließen, dass Müntefering mehr als Wahlkampf im Sinn hat. Es ist etwas kurios, denn in der gesamten Geschichte der Sozialdemokratie war die Frage, wie man dem Kapitalismus reformpolitisch begegnet, bis 1933 das zentrale Thema sozialdemokratischer Theorie. Dass diese große Tradition nun wieder entdeckt wird, kann man putzig finden. Man kann es aber auch begrüßen.

Hat Franz Müntefering denn Recht?

Selbstverständlich hat er Recht. Was er sagt, teilen ja auch viele Liberale. Müntefering könnte es vielleicht noch etwas deutlicher formulieren – aber im Kern ist es richtig. Die Kapitaleigentümer verfügen kollektiv über die Investitions- und Beschäftigungshoheit und über den Staatshaushalt. Angesichts dessen hat Müntefering seiner Wut Luft gemacht. Er hätte das ruhiger, theoretischer begründet können, aber das kann ja noch kommen.

Ist es nicht falsch, diese Debatte moralisch aufzuladen?

Natürlich ist es falsch, zu behaupten, dass Kapitalisten bösartige Charaktere sind, die den Staat schädigen. Das wäre dümmlich, denn was das Kapital tut, muss nicht den Motiven der einzelnen Kapitalisten entsprechen. Es kann allerdings dennoch so sein – und das hat Müntefering behauptet.

Warum reagieren Vertreter der Wirtschaft so heftig auf Münteferings Kritik?

Na ja, sie tun so, als würde es um ihre Charakterqualitäten gehen und nicht um die Dynamik des Wirtschaftssystems. Sie sind empört, weil sie persönlich für den ökonomischen Sittenverfall und mangelndes Wachstum verantwortlich gemacht würden. Das aber hat, wenn ich recht sehe, niemand behauptet. Insofern wird hier planmäßig aneinander vorbeigeredet. Ich denke, man sollte diese beleidigten Reaktionen nicht überschätzen.

Fehlt in Deutschland ein im Habermas’schen Sinn herrschaftsfreier Diskurs über die Folgen der Marktwirtschaft?

Nein. Es gibt alle möglichen Auffassungen dazu in Wort und Schrift, sie sind in wissenschaftlicher politisch-publizistischer Weise zugänglich. Allerdings ist eine originelle, intelligente und praktisch weiterführende Kritik des Kapitalismus nicht recht zu sehen. Auch die Linke hat kein klares Konzept einer sozialistischen oder einer sozial gerechten Verwendung und Auswertung des Marktmechanismus.

Sind die hohen Arbeitslosenzahlen und die Macht der Banken und Industriebosse, um es plakativ zu sagen, eine Gefahr für die Demokratie?

Die hohe Arbeitslosigkeit ist eine Gefahr für die Demokratie, so hat es Müntefering gesagt. Er meint damit auch, dass die Inhaber der Investitions- und Beschäftigungshoheit, also insbesondere mobile Investoren, die Macht haben, staatliche Politik bis auf die Knochen zu blamieren. Die Politik wollte die Arbeitslosenzahl bis zum Jahr 2005 halbieren. Peinlicherweise hat sich der Trend in der entgegengesetzten Richtung entwickelt. Die Politik kann also lächerlich gemacht werden. Sie kann dargestellt werden, als würde sie dümmlich an Problemen herumdoktern, während alles viel besser liefe, wenn man dem Kapital freie Hand ließe. Das führt zu Enttäuschungen, zu zynischer Abwendung von Politik und Verachtung der politischen Klasse. Das ist Gift für eine Demokratie, die nicht nur nominell sein will, sondern ihre Bürger auch emotionell und intellektuell in Anspruch nimmt.

Heiner Geißler fordert eine internationale Spekulationssteuer. Funktioniert das? Oder schränkt dies die Marktwirtschaft zu sehr ein?

Solche Ideen sind weder originell noch einfach umsetzbar. EU-weite, oder sogar weltweite Normierungen wirtschaftlichen Handelns sind ungeheuer schwierig durchsetzbar. Denn die Nationalstaaten rivalisieren miteinander um Kapital, Beschäftigung und Standortvorteile. Das heißt, wenn ein EU-Staat bereit wäre, das eigene wirtschaftliche Geschehen an europäische Normen zu binden, dann gingen Handlungsspielräume für die nationale Politik verloren. Diese aber braucht man, um Wahlen zu gewinnen. Man muss also zumindest so tun können, als ob man was tun könnte.

Die Politik darf und soll also in Marktwirtschaft eingreifen. Was kann sie erreichen?

Auf Märkten gibt es Risiken und Gelegenheiten. Man hat die Gelegenheit, reich zu werden, und das Risiko, arm zu werden. So einfach ist das. Politik muss dazu beitragen, dass es eine faire Verteilung der Gelegenheiten und Risiken gibt. Allerdings gibt es die Gefahr, dass Politik Marktwirtschaft so weit begrenzt, dass dies selbstschädigend wird. Dann verliert die Politik ihre Handlungsfähigkeit, weil Arbeitgeber ihren wirtschaftlichen Erfolg woanders, nämlich jenseits der nationalen Grenzen, suchen. Und je mobiler die Arbeitgeber sind, desto empfindlicher reagieren sie auf unfreundliche Maßnahmen der staatlichen Politik. Und desto mehr muss sich die staatliche Politik vorsehen, sich nicht selbst zu schädigen. Genau das sehen wir ja gerade an der Bundesregierung.

Wirtschaftsvertreter behaupten, je freier die Wirtschaft sei, desto sozialer sei sie. Dafür sprechen doch die Erfahrungen der frühen Bundesrepublik.

Doch, dafür spricht die Erfahrung der 50er und 60er Jahre. Damals gab es eine weitgehende Investitionsfreiheit und -förderung. Dies hat zu Wachstum geführt, nahezu Vollbeschäftigung ermöglicht, starke Gewerkschaften, den Ausbau der Sozialversicherungssysteme und allgemeinen Wohlstand gebracht. Damals war das Kapital aber noch meist stark in Deutschland gebunden. Das hat sich geändert. Heute haben wir hohe Kapitalmobilität, selbst bei höchster Investitionsfreiheit schwaches Wachstum, das übrigens durch Einsparung von Beschäftigung ermöglicht wird und keine Beschäftigungseffekte mit sich bringt. Auch die Gleichverteilung des Wohlstandes, die es damals gab, ist nicht mehr zu finden, wie der Armutsbericht zeigt.

Hohe Kapitalmobilität, rivalisierende Nationalstaaten – was kann die Politik tun, um Arbeitsplätze zu schaffen?

Die Politik kann den steuerzahlenden Unternehmen einen Gefallen tun und hoffen, dass dieser honoriert wird. Da aber der Steuerwettbewerb in Europa intensiv ist, wird man so nicht weiterkommen. Die Politik steht schon aus haushaltspolitischen Gründen mit gebundenen Händen da. Sie hat die Aufgabe, den Wählern eine Menge schlechter Nachrichten beizubringen. Das tut sie ja täglich. Alles, was die Beschönigung der Lage beendet, ist zu begrüßen. Müntefering hat damit angefangen.

INTERVIEW: MAIK FORBERGER