Zukunft Irans: Das Ringen um die Ära nach Chamenei
Nach den Schlägen des israelischen Militärs ist im Iran die Herrschaft Ali Chameneis so geschwächt wie noch nie. Wie es dort weitergehen könnte.

E s sind sonderbare Zeiten. Historische Schicksalstage, in denen ein längst ausgedientes Regime um seine Zukunft bangen muss. Ungewiss ist aber auch die Einheit, die Existenz Irans. In den zwölf Tage dauernden israelisch/amerikanischen Bombardements verlor die Islamische Republik nicht allein ihr wahnwitziges Atomprogramm, das Hunderte Milliarden Dollar gekostet und dem Land fast vierzig Jahre beispiellose Sanktionen beschert hat. Der Militär- und Repressionsapparat wurde praktisch enthauptet. Die Topwissenschaftler, die an der Bombe bastelten, wurden einer nach dem anderen gezielt getötet.
Der Krieg ist nicht beendet. Täglich gibt es im ganzen Land Explosionen in Wohnhäusern und staatlich-religiösen bzw. militärischen Einrichtungen. Es seien defekte Gasleitungen, melden regelmäßig die offiziellen Webseiten, was Karikaturisten auf die Idee brachte, Israels Premier Benjamin Netanjahu als Gasinstallateur mit bitter-ironischen Sprüchen darzustellen. In dieser kuriosen Zeit steht das Achtzigmillionenvolk vor einer ungewissen Zukunft. Es sieht patrouillierende Milizen auf den Straßen und liest von brisanten, offenen Drohbriefen.
Joav Galant schreibt an Ali Chamenei
„Wir haben uns noch nie gesehen. Ich bin aber mir sicher, dass wir viel voneinander wissen.“ So beginnt Joav Galant, ehemals israelischer Verteidigungsminister, seinen offenen Brief an Irans Obersten Führer, Ali Chamenei. Es war der 11. Juli 2025, fast einen Monat nach Beginn der israelischen Militärschläge gegen Iran. Sein Brief enthält weder eine Anrede noch freundliche Grüße.
„Ich kenne Sie seit fast drei Jahrzehnten“, schreibt Galant, „und habe jeden kritischen Wendepunkt Ihrer Führung mitverfolgt. Ich habe Ihre Entscheidungen, Ihre Doktrin und die Architektur Ihrer Stellvertreter in der Region verfolgt, miterlebt, wie Sie Chomeini ablösten, politische Macht anhäuften und versuchten, eine iranische regionale Hegemonie aufzubauen. Ich verstand nicht nur Ihre Ziele, sondern auch die Methoden, mit denen Sie diese erreichen wollten.“
Als Verteidigungsminister sei er verantwortlich dafür gewesen, „israelische Geheimdienstinformationen, Luftwaffenkapazitäten und strategische Doktrinen, die über Jahrzehnte gesammelt und entwickelt wurden, in einem einzigen, koordinierten Militärplan zu vereinen“. Einen Plan, der „Ihren Ring des Feuers wie ein heißes Messer durch Butter zerschnitt und ihn schließlich zusammenbrechen ließ“-
Dann kommt Galant auf den aktuellen Zwölftagekrieg im Juni zu sprechen: „Was sich dabei abspielte, war nicht bloß eine Militärkampagne. Es war der strategische Zusammenbruch eines Systems, an dessen Aufbau Sie vier Jahrzehnte lang gearbeitet haben.“ Israel sei in das Innerste des iranischen Herrschaftssystems, ins Zentrum der Macht auf höchster Ebene eingedrungen. „Aber mehr als nur der physische Schaden wurde etwas Tieferes offenbart: Wir sehen alles. Wir hören alles. Wir sind überall.“ Die israelischen Dienste haben auch die Gespräche zwischen Irans und Chameinis Verbündeten in Beirut, Damaskus und Teheran ausgespäht. „Und von denen stehen die meisten nicht mehr auf Ihrer Seite.“ Es gibt sie nicht mehr.
„Wir kannten Ihre Zeitpläne. Ihre Standorte. Ihre Kommunikation. Ihre Zeitlinien. Ihre Ausweichpläne. Und Ihre blinden Flecken. In vielerlei Hinsicht wussten wir mehr über Sie als Sie über sich selbst“, so Galant. „Würden Sie Ihre Zukunft und die Ihres Landes in einem Wettlauf riskieren, den Sie nicht verheimlichen können und wahrscheinlich nicht beenden werden?“ Galants Brief schließt mit einer Warnung: „Beenden Sie Ihren Krieg gegen ein kleines, entschlossenes Land tausend Meilen von Ihrer Grenze entfernt und konzentrieren Sie sich stattdessen auf das Wohl und die Zukunft Ihres eigenen Volkes. Wenn Sie den Fehler wiederholen, sind wir da. Auf Sie wartend.“ Das ist unmissverständlich.
Die jetzige Feuerpause scheint so betrachtet kaum mehr als eine Atempause. Es kann jederzeit wieder losgehen. Ali Chameneis „Islamische Republik“ befindet sich in einem Schwebezustand. Die jetzige Phase markiert keine Nachkriegs-, sondern eher eine weitere Vorkriegszeit. Die Dimension dessen, was bisher genau geschehen ist, bleibt dabei im Dunkeln. Der größere Teil des iranischen Militärapparats ist zwar praktisch enthauptet; ob aber auch das iranische Atomprogramm bereits wirklich Geschichte ist, wer will es sagen? Was ist Propaganda, was beruht auf Tatsachen?
Die Jagd auf Afghanen und israelische „Spione“
Was wird aus der Islamischen Republik Iran, was aus Chameneis Lebensmission? Die Post-Chamenei-Ära ist bereits angebrochen, in sehr angespannter Atmosphäre. Die Jagd des Regimes auf (vermeintliche) Spione und Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad ist in vollem Gange. Dabei hat sich die Staatspropaganda erkennbar verändert: neben Islamismus geht es in der Rhetorik verstärkt um Nationalismus und Patriotismus. Neben schiitischen Märtyrern tauchen auf Plakaten und in offiziellen iranischen Medien vermehrt Figuren aus der vorislamischen Mythologie auf. Nationalistische Hymnen werden aus den Archiven geholt und mit schiitischer Konnotation vermengt.
Unmittelbar nach dem Zwölftagekrieg begann in Iran die Jagd auf afghanische Flüchtlinge. Das Regime rühmt sich, in diesem Jahr bislang eine Million (!) afghanischer Flüchtlinge in den Nachbarstaat deportiert oder vertrieben zu haben. Das UNHCR bestätigt diese Zahl. Warum diese vor den Taliban geflohenen Menschen nun plötzlich Iran verlassen müssen, dafür liefert die Propagandamaschinerie eine lange Liste an Behauptungen. Sogar von Mossad und Spionage ist dabei die Rede. Gegen die Remigrationspolitik à la Islamische Republik regt sich kaum Widerstand oder Protest im Land. Bei der Jagd auf Spione und Kollaborateure der „Zionisten“ ist dieser Tage alles gerechtfertigt.
Ist ein „friedlicher“ Übergang zu einer Post-Chamenei-Ära in Iran vorstellbar? Wie würde er aussehen? Ein beseitigter Tumor könne immer wieder Metastasen bilden, das gelte es zu verhindern, sagte Benjamin Netanjahu am 5. Juli 2025 bei einem Dinner mit US-Präsident Donald Trump im Weißen Haus in Washington. Tags zuvor hatte Israels Verteidigungsminister Israel Katz verkündet, sein Militär werde die Lufthoheit über den Iran vorerst behalten.
Trump fügte an, Chamenei und seine islamistischen Anhänger müssten endlich aufhören, „Tod Amerika“, „Tod Israel“ zu rufen. Das war nicht einmal im Plural gemeint. In Wirklichkeit zielt das auf Chamenei selbst, den Obersten Führer, der seit 1989 als religiöses und politisches Oberhaupt Irans fungiert und zugleich auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist.
Der Brief iranischer Wissenschaftler an die Führung
Kurz nach dem Dinner in Washington listeten 180 iranische Universitätsprofessoren in einem offenen Brief an den 2024 zum Präsidenten ernannten Massud Peseschkian auf, was der Oberste Führer nun vielleicht tun sollte, wolle er eine weitere Katastrophe für das Land abwenden.
Der eigentliche Adressat des Briefes heißt nicht Peseschkian. Doch, ihn, Chamenei, Stellvertreter Gottes auf Erden, darf man nicht direkt belehren. Die Wissenschaftler zählen unmissverständlich auf, was in dieser historischen Situation geschehen müsse. Zunächst setzen sie sich dafür ein, „die territoriale Integrität des Landes zu bewahren“. Dann fordern sie ein garantiertes Recht auf „Meinungs- und Redefreiheit“. Die „Freilassung der politischen Gefangenen und ein Ende der Hausarreste“. Das „Ende des Monopols einer kleinen Gruppe auf Radio und Fernsehen“. Die „Neuorganisation des gesamten Sicherheitsapparats“ sowie ein „gründliches Umkrempeln der Wirtschafts-, Handels- und Währungspolitik, damit die systematische Korruption ein Ende findet“.
Am Ende ihres Briefes formulieren die Wissenschaftler sehr deutlich: Ohne echte Beteiligung der Bevölkerung und ohne eine völlige Änderung der Außenpolitik lasse sich keines dieser Ziele realisieren.
Würde der wahre Briefadressat diesen Forderungen nachkommen, von seiner „Islamischen Republik“ bliebe allenfalls eine Hülle übrig. Doch ob die Geister, die er in den 36 Jahren seiner Herrschaft um sich sammelte, sich so leicht in die einmal geöffnete Flasche zurückpressen lassen? Zumal Chamenei selbst als Inkarnation eines Geistes erscheint.
Wer will was?
US-Präsident Trump sagt, Iran werde mit ihm verhandeln. In Anwesenheit Netanjahus in Washington verkündete er sogar, bald werde sein Sondergesandter Steve Witkoff sich auf den Weg nach Teheran machen. Der Außenminister des iranischen Regimes, Abbas Araghtschi, antwortete, USA und Israel müssten aber zuvor garantieren, sämtliche Kampfhandlungen dauerhaft einzustellen. Dann könne man reden.
Donald Trump mag mit Europa vielerlei Probleme haben. Doch was Iran angeht, scheinen Europäische Union und USA mittlerweile eine gemeinsame Linie gefunden zu haben. Irans Führung wurde eine ultimative Frist bis Ende August gesetzt. Lenkt die Führung bezüglich des Atomprogramms nicht ein, werden Mechanismen für weitere harte Sanktionen ausgelöst.
Israels Regierungschef Netanjahu dürfte das alles nicht weit genug gehen. Der Iran und Chamenei müssten wie einst Libyen und Gaddafi (2003) unter strenger internationaler Aufsicht das gesamte Atomprogramm einstellen.
Die Verborgenheit ist eine schiitische Konstante. So soll der zwölfte Imam, in dessen Namen Chamenei regiert, seit 1.250 Jahren im Verborgenen existieren und weiterhin in der Welt herrschen. So auch Chamenei. Aus seinem Versteck heraus erfülle der geehrte Führer seine Rolle als Oberbefehlshaber mustergültig, verbreiten die Regime-Medien über ihre Webseiten. Doch, ob und wie der 86-Jährige sich nun auf seine völlige Verborgenheit vorbereitet, wir wissen es nicht.
Lange dürfte es allerdings nicht mehr dauern, bis die Diadochenkämpfe unter den potenziellen Nachfolgern sichtbar werden. Die Revolutionsgarden verloren zwar viele ihrer Köpfe. Zu einem großen Krieg mit dem Ausland sind sie nicht fähig. Dafür sind sie, die sie sich den Großteil des nationalen Reichtums angeeignet haben, im Inneren präsenter denn je. Sie werden versuchen, dauerhaft zu bestimmen, wohin die Reise geht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Normalisierung Israels Gewalt in Gaza
Tödliche Abstumpfung
Debatte um Mindestlohn
Wer beißt in den sauren Apfel?
Protest beim Sommerinterview mit Weidel
Ein Hoch auf den Zwischenruf
Protest gegen Alice Weidel
Was der AfD wirklich nützt
Rassismus im Mietshaus
Wenn der Nachbar rechtsextrem ist
Neue Oper für Hamburg
Kein Applaus für Klaus Michael Kühne