
Abschied von Russland: Mütterchen, es ist Zeit zu gehen
Mehr als ihr halbes Leben verbrachte unsere Korrespondentin in dem Land, das seinen Nachbarn überfallen hat und die eigenen Leute nicht frei reden lässt.
M inus 46 Grad. Ich war ein Eisklotz voller Schichten aus Mikrofasern, Fleece und Fell. Die Augen gingen kaum noch auf, der Raureif auf den Wimpern wog schwer. Ich sank im Schlitten aus Hartplastik zusammen. Mich beschlich immer mehr die Sorge, einzuschlafen und zu erfrieren, hier im Norden der Insel Sachalin, „am Rande der Welt“, wie das indigene Volk der Niwchen sie nennt. Knapp neun Flugstunden von Moskau weg, eine Nachtfahrt im Zug, vier Stunden in einem Bus, fast eine in einem anderen. Ich atmete sehr langsam, das Schneemobil ratterte durch den fest gewordenen Schnee in der Pomr-Bucht des Ochotskischen Meeres, weit im Osten Russlands.
Die Niwchen lebten hier bereits vom Fischfang und der Robbenjagd, als russische Zaren noch nicht mit japanischen Kaisern um die Vorherrschaft auf der Insel stritten. Sie lebten auf Sachalin, als zuerst das russische Zarenreich und später das sowjetische Terrorregime seine Gefangenen hier ausschüttete und in den Tod trieb. Es ist ihr „Land der Ahnen“. Mehr schlecht als recht trotzen sie heute den wirtschaftlichen Herausforderungen, der Fisch geht ihnen aus, weil die Bohrtürme von Rosneft, einem der größten Ölproduzenten weltweit, die Laichplätze der Lachse bedrohen. Die Niwchen verlieren viele ihrer Verwandten an den Alkohol, sehen ihre Kinder wegziehen, weil das Festland mehr zu bieten hat als das Robbenfett in einem Holzverschlag und die Legenden, die die Alten nach und nach vergessen.
Sind es die Gräber der Vorfahren, die sie in dieser nicht enden wollenden Schönheit aus Schnee und Eis halten? Ein Gefühl, das sich Heimat nennt? Schmerzvoll, es aufgeben zu müssen und woanders nicht mehr das wiederzufinden, das einem so nah und vertraut ist? Ist es die Weite, die seltsame Stille, die gar nicht still ist, weil das Meer immer tost? Der knirschende Schnee, das Gefühl der Unendlichkeit?
Der Fischer, der mich hinter sich herzog, eine Viertelstunde bereits, stellte sich solche Fragen nicht. Er, der bis vor wenigen Minuten noch mit bloßen Händen aus einem präzise ausgemessenen Eisloch Stinte, Dorsche, Grundeln in einen anderen Schlitten beförderte, pfiff gegen den Wind an, während ich nur noch einen Gedanken hatte: Wärme, gebt mir Wärme!
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Die Pioniere sind zurück im Land
Ich weiß nicht mehr recht, wie meine Füße mich vom Schlitten ins Haus des Fischers getragen haben. Damals, 2019, noch weit vor dem Krieg, der von einer Minute auf die nächste alles an Gewissheiten zerstörte und einen undurchsichtigen Schleier auf das Land legte. Diesem Krieg, der alles in ein Davor und ein Danach teilt, der den Alltag in jeder Minute bestimmt. Die Arbeit sowieso.
Zu den Niwchen kann ich nicht mehr. Der Geheimdienst FSB, der schon vor sechs Jahren alles überwachte und mich nach einigen Recherchetagen im Schnee sieben Stunden lang in einer grauen Amtsstube befragte, anbrüllte und erniedrigte, ohne auch nur ein Glas Wasser zu erlauben, hat nun alles unter Kontrolle. Das Frieren von heute ist ein anderes als das Frieren in der Bucht vor Sachalin.
Die Fischersfrau hatte mir den Pelzmantel abgenommen und mich in Richtung Gasofen bugsiert. Ich spürte Leben in mir aufsteigen, es zog von den Zehen in den Kopf, meine Augen blinzelten wieder, die Finger griffen nach einer Tasse warmen Tees. Die feuchten Wollsocken baumelten auf einer Leine über dem Ofen, der hier nie ausging.
Ach, Mütterchen …
So empfängst du deine Besucher*innen. Du lässt sie zunächst in der Kälte stehen. Kein Lächeln. Du blaffst sie an, bellst fast, musterst sie. Fremde erscheinen dir immer gefährlich, suspekt. Du zeigst ihnen die kalte Schulter – und eine rührende Art von Neugier. Nach einer gewissen Zeit, wenn auch der Fremde sich geöffnet hat, wenn er dich angelächelt hat – oder vielleicht auch angeblafft hat, weil er dachte, so gehöre es sich im Umgang mit dir – lässt du ihn die Wärme verspüren, die von dir ausgeht. Manchmal auch eine gefährliche Hitze.
Ich bin eine etwas anders geartete „Fremde“. Manchmal sagst du sogar, ich sei eine „Nascha“, eine „Unsrige“. Geburtsland: Sowjetunion. 1980 war das. Meine deutschen Vorfahren hast du einst ins Lager gesteckt, hast sie schuften und hungern lassen. Sie haben deinen Gulag überlebt, voller Angst und Traumata, die sie bis heute in sich tragen. Meinen ukrainischen Urgroßvater hast du vom NKWD, dem Vorgänger des heutigen FSB, festnehmen lassen und ihm seine Identität genommen. Sein Sohn hat seinen Namen geändert und nie etwas über die Festnahme des Vaters erzählt. Die Vorwürfe, die sich im „Fall“ gegen den ukrainischen Urgroßvater, der nur noch sowjetisch sein durfte, finden, sind teils wortgleich mit den Vorwürfen gegen die heutigen Regimekritiker*innen. Es sind fast 90 Jahre vergangen.
Ich bin nicht die „Deine“. Aber ich kenne deine Mechanismen von Demütigung und Bestrafung von klein auf. Weiß, dass ein Individuum ein Nichts ist für dich und das Kollektiv alles. „Immer bereit!“ Dieser Spruch der Jungpioniere, auch mir ging er als Kind über die Lippen – bis ich die zusammengebrochene Sowjetunion verließ und lernte, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Vielfältig, auch zweifelnd, Fragen stellend.
Die Pioniere sind zurück im Land, nun nicht mehr sowjetisch, sondern russisch. Sie haben sich zur neu gegründeten „Jugendarmee“ gesellt, die in Wettbewerben feiert, wer am schnellsten eine Kalaschnikow auseinandernimmt und wieder zusammensetzt. Auch Fahnenappell und die militärische Grundausbildung in der Schule sind wieder da. Du bist geübt in Indoktrination, schon der Allerkleinsten. Ich erinnere mich an das Gedicht „Kakerlake“ des sowjetischen Kinderautors Kornej Tschukowski. Du bist wie der dicke Schädling dort: Ein „schrecklicher Riese, rot und mit Schnurrhaaren“ tauchte bei allerlei Tieren auf und versetzte sie in Angst und Schrecken. „Bringt mir eure Kinderlein“, schrie die Kakerlake bei Tschukowski. „Ich werde sie zum Abendessen verspeisen.“
Du verspeist. Kinder und Erwachsene zugleich. Nicht der Bär, die Kakerlake müsste dein Nationaltier sein, in jeder Ecke deines Riesenlandes versteckt sie sich, nicht auszurotten.
Barmherzigkeit war noch nie deine Stärke
Ach, Mütterchen …
Du duldest keine Fragen, keinen Zweifel. Für dich gibt es ein ständiges „Nelsja“ (Man darf nicht) und ein „Nado“ (Man muss). Warum die Menschen etwas nicht dürfen oder etwas müssen, erklärst du nicht. Du stellst nur fest. Hält sich der Mensch nicht daran, wird er bestraft. Immer. Barmherzigkeit war noch nie deine Stärke. Um ans Ziel zu kommen, kennst du nur Gewalt.
Es gab eine Zeit, in der du dich geöffnet hattest. Eine chaotische Zeit, in der niemand wusste, wie mit Freiheit umzugehen sei. Und wie mit einer Wirtschaft, die zusammengebrochen war. Die Freiheit war nach einiger Zeit anstrengend, zu wild das alles. Selbst denken ist anstrengend, Verantwortung übernehmen ist anstrengend. Du hast es gern gesehen, als die Menschen alles an dich übergaben und auf ihrer Datscha das Leben genossen. „Der Politik bin ich fern“, sagen sie gern. Nicht alle natürlich. Wie lebt es sich in einer Gesellschaft des Umbruchs? In einer Gesellschaft, die Teile ihrer Geschichte verleumdet und eine Zukunft leben will, in der sie ihre Erzählung vom kulturhistorischen „Sonderfall“ jedem aufzubinden versucht?
Ich war als Kind gegangen und bin als Erwachsene zu dir zurückgekehrt. Nach Russland. Ich bin durch den postsowjetischen Raum gereist. Habe als Austauschstudentin dein Unileben kennengelernt (sehr verschult), später als Gastredakteurin bei einer russischen Zeitung gearbeitet (als es noch unabhängige Medien gab). Ich bin Jahre bei dir geblieben, überzeugt davon, dich meinen Leser*innen erklären zu können, deine Geschichte, deine Schmerzen. Ich blieb auch noch da, als viele Kolleg*innen dir längst den Rücken gekehrt hatten. Dich zu verstehen, machte das lange Beobachten, Zuhören, Fragen stellen dennoch nicht einfacher.
Ich lernte hier die Liebe kennen, vor einem Gerichtsgebäude, wo sonst. Russlandberichterstattung ist weiterhin Gerichtsberichterstattung. Nur dass die Gerichte kaum mehr Journalist*innen in die Verhandlungssäle lassen. Nach ein paar Jahren woanders war ich wieder bei dir, zu einem Zeitpunkt, als deine Gesellschaft immer militaristischer wurde. Mehr als mein halbes Leben lang habe ich bei dir verbracht, habe unserem Kind deine Sprache mitgegeben, meine Sprache der Kindheit, die ich nicht Putin und seinen willfährigen Handlangern überlasse.
Ich habe als Fünfjährige im Steppenwind zu Alla Pugatschowa herumgetänzelt, da war sie längst eine Diva. Du hast sie, eine Nationalheilige fast, tief stürzen lassen, weil sie Rückgrat bewies und dich für deinen Überfall auf die Ukraine kritisierte. Ihre Lieder sind heute wie gelöscht im Land. Ich mache sie oft laut im Auto an, wenn ich mit 80 Stundenkilometern über die achtspurigen Straßen durch das Moskauer Stadtzentrum brettere – ja, das darf man –, vielleicht eine Art persönlichen Protests. Manchmal weinen der Himmel über der Stadt und ich dabei um die Wette.

Du frisst einen auf, du machst krank, du lässt Wut aufkommen und Hass und Mitleid, eine ganze Palette an Emotionen. Du lässt Tränen vergießen, um dich und deinetwegen, und klebst doch an einem. Da hilft auch kein Gläschen Wodka als Absacker, „na possoschok“, wie du sagst.
Die Willkür ist dein ständiger Begleiter. Du hast dich in der Gewalt eingerichtet. In alten Verbrechen, die du nicht verarbeiten willst, auch Jahrzehnte nach diesen Verbrechen nicht; du wälzt jeden nieder, der dies dennoch versucht. Auch mit neuen Verbrechen findest du dich ab, die du täglich begehst und über die du der ganzen Welt erzählst, all das sei nur zu deinem Schutz, zu deiner Verteidigung. Du lügst dir in die Tasche und verdrehst die Tatsachen so geschickt, dass dir die Welt so viele Jahre alles Mögliche abgenommen hat, trotz deiner Kriege, Tschetschenien, Georgien, Ukraine, mit dir Geschäfte machte, deine Gastfreundschaft hervorhob und deinen angeblichen Willen zur Partnerschaft.
Der Westen: Vorbild und Rivale zugleich
Die russische Seele sei es, die sie so anlocke, die dich so besonders mache, schwärmten die Unbelehrbaren stets. So manche/r von ihnen schwärmt wohl auch noch heute von ihr. Du hast diese Seele nie gehabt, du hast sie nur mittels des Franzosen Eugène-Melchior de Vogüé bereits im 19. Jahrhundert ziemlich erfolgreich in die Welt hinaustragen können. Du ließest dich damals auf einen Fremden ein, auch noch einen aus dem Westen. Vorbild und Rivale zugleich ist dieser Westen stets für dich. Du arbeitest dich an ihm ab, du brauchst ihn zum Überleben. Du klebst an ihm. Du bist eine zähe Sache.
Ach, Mütterchen …
Matuschka. Mat’. Mama. Russland ist weiblich, hervorgegangen aus der Vorstellung von der Erde als göttliche Mutter, die zum Symbol der Stärke, der Widerstandskraft und der Fruchtbarkeit stilisiert wurde. Diese Stärke willst du allen weismachen und bist zuweilen so erbärmlich unsouverän und infantil, weil du ständig auf andere zeigst und fast schon trotzig brüllst: „Aber die haben das auch gemacht! Wir dürfen jetzt auch!“ Widerstand ist so eine Sache bei dir. Du machst dir die Menschen, die durchaus ständig am Klagen sind, gefügig. Du nimmst ihnen immer mehr den Raum, sich dir zu entwinden. Verlangst, dass sie sich dir unterwerfen, egal, was du von ihnen willst. Sie sollen dir blindlings folgen, sollen Gehorsam leisten, gern vorauseilend, und bloß nicht aufmucken. Den Gürtel enger zu schnallen, gehört mitunter zu deiner Spezialität. Manchmal bist du geradezu stolz auf deine Leidensfähigkeit.
Und das mit der Fruchtbarkeit? Im Ernst? Du schickst deine Söhne in den Krieg, du sagst schon den Kleinsten, es sei ihre Pflicht, für dich, die Mutter Heimat, auf Schlachtfeldern zu sterben, du nimmt allen die Zukunft und zwingst die Frauen, gern schon Schulmädchen, zur Geburt von Kindern, die du zum Frischfleisch für deine imperialistischen Fantasien machst oder zumindest zu Mitläufer*innen. Völlig schonungslos.
Ich weiß, du gibst dich aufopferungsvoll, ach so liebend, immer nur dein Kind im Blick. Mamotschka, Mamulja, Mamussik, geradezu lieblich kommen deine Namen daher. Doch du hast dich längst mit deiner Rolle der aufopfernden Dienerin eines Verbrecherstaates abgefunden. Du als Mütterchen Russland, so lässt sich über deine Entstehungsgeschichte herausfinden, hattest stets ein Zaren-Väterchen an deiner Seite. Der Monarch schloss eine heilige Allianz mit dir, die Ehe. Und schon gehörtest du ihm, er sprach für dich und tat alles in deinem Namen.
Im Namen des Friedens lässt du töten
Das Väterchen ist kein Zar mehr, du hast dich längst dem Präsidenten ausgeliefert. Dem Mann, einem Geheimdienstler, der in deinem Namen sagt, Russland kenne keine Grenzen. Der das Nachbarland überfällt und den Menschen weismacht, es sei gar kein Überfall, sei kein Krieg, es sei eine „militärische Spezialoperation“, nach drei Tagen beendet, die Soldaten würden mit Blumen empfangen.
Eine Überschätzung von Anfang an. Du und er, ihr findet auch nach dreieinhalb Jahren keinen Weg mehr heraus, ihr habt alles auf diesen Krieg eingestellt, den ihr nicht Krieg nennt. Denn einen Krieg, so sagt der moderne Zar, dein Präsident, den führten die anderen, angeblich gegen dich, deine Interessen. Es ist eine pervertierte Geschichte, und du trägst sie mit, so stromlinienförmig wie die meisten um dich herum.
Wie machst du das? Wie schaffst du es, das Denken abzustellen und all das zu ignorieren, was nicht zu ignorieren ist? Du spaltest die Fakten so weit ab, dass du ganz verwundert darüber bist, dass deine Verwandten in der Ukraine nicht mit dir sprechen wollen. „Aber ich, ich habe ihnen doch nichts getan“, stammelst du allen Ernstes. „Ich, ich bin doch so friedliebend“, sagst du und lässt sogleich (ja, als unteilbare Gemeinschaft mit dem Väterchen) Drohnen und Raketen auf ukrainische Städte niederregnen.
Das sei alles deins, behauptest du, du wollest das nur mal schnell „befreien“. Deine „Befreiungskünste“ aber schätzt niemand. Im Namen des Friedens lässt du töten und versinkst im Sumpf aus Verwerflichem und Beschönigendem. Du willst nicht nachdenken, willst nichts wissen, willst nichts fühlen. Du willst keinen Schmerz spüren, der täglich um dich ist, der tote Bruder, der verwundete Enkel, der verschollene Nachbar.
Du hast das russische Wort „gore“ vergessen und die Bedeutung dahinter. Sie ist so vielfältig: Leid, Schmerz, Kummer, Misere, Ungemach, Last, Unglück, Elend. Du willst all das von dir weisen, du Patriotin! Willst lieber im überfüllten Café deinen Sommerdrink schlürfen, willst über Brücken voller prächtiger Blumen laufen, willst Festivals feiern, jedes Wochenende, alles gratis, willst dich betäuben in diesen Farben und Gerüchen, dich unterhalten lassen. Du willst im Sommerregen tanzen. Dabei tanzt du auf den Knochen Getöteter und Geschundener. Auf der Asche von verbrannten Babys und den Überresten von verschütteten Alten.
Du hast dir eine scheinbar sorgenfreie Realität geschaffen. Bunte Kulissen, dekoriert mit übergroßen Blumenkübeln entlang der Einkaufsstraßen. Es ist eine „Verdatschung“ der ganzen Gesellschaft, eine Flucht ins Grüne, ein bisschen in der Erde buddeln, in der Hängematte baumeln, in die Sonne hinausblinzeln. Hinter den Kulissen der Abgrund, in dem der Morast blubbert und stinkt. Was passiert, wenn du aus der Hängematte hinaus- und in die Schlucht hineinfällst?
Du raubst das Ich
Du könntest der Welt deine dampfenden Vulkane von Kamtschatka zeigen, deine Schneetundra an der Barentssee. Du könntest sie den Steppenwind am Ural spüren und den Lachs an den sibirischen Flüssen schmecken lassen. Du könntest so vieles. Stattdessen drohst du mit Atomwaffen und zerstörst Häuser, Leben, Gewissheiten. Du bringst deine eigenen Leute hinter Gitter, weil sie dein verbrecherisches Tun anprangern. Du schmeißt deine Leute aus dem Land und nennst sie „ausländische Agenten“, „Extremisten“, „Staatsverräter“, weil sie Krieg sagen zum Krieg. Du nimmst mit deinen fast täglichen Vorschlägen und Gesetzen jeden Raum zum Gestalten. Du raubst das Ich.
Zurück bleibt die Tragik. Da ist L., jung, Anwältin, mehrere Sprachen beherrschend. Sie erkennt genau, was los ist bei dir, sie sieht bei den eigenen Eltern, wie gut du darin bist, die Hirne der Menschen zu vernebeln. Sie stritt mit Vater und Mutter, sie stritt für ihre Position. Aber selbst Väter und Mütter können denunzieren. L. verstummte. Nur in ihrem Innern schreit sie laut gegen dich an. Und gegen sich. Äußerlich lebt sie ein unauffälliges Leben. Bringt die Tochter in den staatlichen Kindergarten, wohl wissend, dass die Leiterin dieses Kindergartens Geld sammelt für die Ausrüstung der Soldaten im Donbass. Sie windet sich, sie holt sich psychiatrische Hilfe – und findet sich ab mit dir. Das Kind in einen Privatkindergarten geben? Von welchem Geld? Das Kind zu Hause lassen? Wer verdient das Geld? Eine Wahl zu haben, ist ein Privileg.
Da ist A., ein Kleinunternehmer. Niemand in seiner Umgebung sieht alles, was bei dir passiert, irgendwie kritisch. A. fühlt sich allein. Die Geschäfte laufen schlecht, weil die Finanztransaktionen wegen der Sanktionen ein mühsames Ding sind. A. versteht das alles. Doch überleben muss man irgendwie. Auch er findet sich ab mit dir.
Da ist S., einst in oppositionellen Kreisen aktiv. Nach Festnahmen flüchtete er in ein Dorf im Norden, hier fischt er und schippt Schnee im Winter. Die Politik ist in seinem Kopf und manchmal auch an seinem Esstisch, wenn die Nachbarin vom verletzten Sohn bei der „Militäroperation“ erzählt. „So lange der Verbrecher im Kreml sitzt, so lange wird er unsere Kinder fressen“, sagt S. zur Nachbarin. Die Nachbarin will es nicht hören.
Da ist ein anderer A., ein Intellektueller, zum „ausländischen Agenten“ abgestempelt. Er denkt, er schreibt, er wird immer weniger. Blass, grau, schmal. „Hier ist meine Bibliothek, hier sind meine Verwandten begraben. Es ist mein Land“, sagt er.
Da ist das Mädchen V., das in der Schule eine Soldatenuniform trägt und von „roten Raketen und Maschinengewehrsalven“ singt. Die Eltern daheim sagen: „Es schadet ihr nicht.“
Da ist der Jugendliche F., der so viele Fragen hat, zu sich, zum Leben, zu allem. „Der Krieg, die Politik, die Sorgen um die Zukunft sind nicht die Themen, die erlaubt sind. Das versteht jeder“, sagt er.
Wir müssen uns trennen
Sie sind bei dir geblieben. Sie wollen, können nicht weg. Sie leben in dem Desaster, das du angerichtet hast und sie nicht verhindert haben, wie auch die Gegangenen und die Gegangenwordenen darin leben. Trotz allem träumen sich viele Exilant*innen/Relokant*innen/Emigrant*innen (die Gegangenen haben viele Namen für sich) wieder hierher, zu dir, ins Vertraute, Bekannte. Hier wartet zuweilen ein Strafverfahren auf sie oder es wurde bereits ein Urteil in Abwesenheit gegen sie gefällt. Sie sind in Amsterdam, in Riga, in Tbilissi. Sie sind rund um die Welt verstreut und sagen: „Ich will in mein Moskau zurück. In mein Russland.“ Dieses Moskau und dieses Russland aber gibt es nicht mehr.
Auch wir müssen uns trennen. Vielleicht für lange.
Ach, Mütterchen, пока …
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