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Kinder-Wohnungslosigkeit in BerlinJung und ohne Aussicht

Mehr als 15.000 Minderjährige in Berlin sind wohnungslos – Tendenz steigend. Der Kinderschutzbund fordert Maßnahmen, die Grünen einen Systemwechsel.

Wer in Berlin in einer Flüchtlings­unterkunft wie hier in Tegel lebt, kommt da so schnell nicht wieder raus Foto: Sabine Gudath/imago

Berlin taz | Der Kinderschutzbund Berlin fordert angesichts der gestiegenen Zahlen von wohnungslosen Kindern und Jugendlichen eine sofortige Landesinitiative, um Minderjährige zu schützen. „Das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht und gilt insbesondere für Kinder, Jugendliche und deren Familien“, sagt Sabine Bresche, Koordinatorin der Beratungsstelle des Kinderschutzbundes Berlin, am Montag. Ohne einen geschützten und sicheren Ort drohe jungen Menschen „ein Aufwachsen in ständiger Unsicherheit, was auf die gesamte Entwicklung massive Auswirkungen haben kann“.

Laut einer Antwort der Senatssozialverwaltung auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Taylan Kurt waren Ende Januar dieses Jahres 15.710 Menschen unter 18 Jahren als Wohnungslose untergebracht. Damit ist fast ein Drittel aller Wohnungslosen in Berlin minderjährig. Hinzu kommen verdeckt wohnungslose und obdachlose Minderjährige.

Als wohnungslos gilt, wer keinen eigenen Wohnraum hat und in Notunterkünften, bei Freun­d*in­nen oder Bekannten oder auf der Straße lebt. In Berlin gab es im vergangenen Jahr insgesamt rund 47.000 untergebrachte wohnungslose Menschen, 6.000 Obdachlose und 2.300 verdeckte Wohnungslose.

Als wohnungslos zählen auch sogenannte statusgewandelte Geflüchtete, also Menschen, die Asyl oder eine Duldung bekommen haben, aber aufgrund des angespannten Wohnungsmarkts und/oder rassistischer Diskriminierung keine eigene Wohnung finden und in Geflüchtetenunterkünften leben müssen. Das betrifft 12.612 Minderjährige, wie die Sozialverwaltung auf taz-Anfrage mitteilt.

Teils keine Kinderschutzkonzepte

Die Zahl der wohnungslosen Kinder und Jugendlichen in der Hauptstadt steigt seit Jahren rasant an. So waren es im Jahr 2022 noch 6.205. Innerhalb von drei Jahren ist ihre Zahl also um mehr als 150 Prozent gestiegen. Im Vergleich zu 2024 sind es rund 15 Prozent mehr.

Das Ignorieren dieser dramatischen Situation ist strukturelle Gewalt gegen Kinder und deren Familien

Sabine Bresche, Kinderschutzbund Berlin

Dass der schwarz-rote Senat trotz der steigenden Zahlen keine konkreten Sofortmaßnahmen ergriffen hat, ist aus Sicht des Kinderschutzbundes nicht nachvollziehbar. „Wohnungslosigkeit unter Kindern ist kein Zufall. Das Ignorieren dieser dramatischen Situation ist strukturelle Gewalt gegen Kinder und deren Familien“, so Bresche.

Was es jetzt brauche, sei „sofortiges Handeln, um den Kinderschutz zu gewährleisten“. Dazu gehörten neben einem beschleunigten Ausbau des sozialen Wohnraums für Familien die Einrichtung von Übergangswohnungen, präventive Maßnahmen gegen Wohnungsverlust sowie die Umsetzung von Kinderschutzkonzepten in allen Notunterkünften, in denen Familien untergebracht werden.

Denn für Minderjährige, die nicht in Flüchtlingsunterkünften des Landes Berlin, sondern in bezirklichen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) untergebracht sind, gibt es nicht zwangsläufig Kinderschutzkonzepte, geschweige denn familien- beziehungsweise kindgerechte Unterkunftsplätze. Zwar wurden im vergangenen Jahr seitens der Bezirke Mindeststandards mit den externen Trägern vereinbart, die solche Konzepte vorsehen. Diese werden laut Senat aber erst „sukzessive umgesetzt“.

Gemeinwohlorientiertes System könnte helfen

Laut Taylan Kurt von den Grünen geht das bei weitem nicht schnell genug. Dabei drängt die Zeit. Denn angesichts des Mangels an bezahlbarem Wohnraum und der politischen Agenda der schwarz-roten Landesregierung werden auf absehbare Zeit nicht ausreichend erschwingliche Wohnungen für Familien entstehen, das Problem wird sich damit künftig noch verschärfen.

Kurt fordert daher Mindeststandards für Kinder und Jugendliche in den Unterkünften wie Aufenthalts- und Lernräume. „Die extrem beengten Verhältnisse von Notunterkünften sind für die Entwicklung nicht förderlich“, so Kurt zur taz. Das wirke sich auch auf die Schule aus. „Die Kinder haben keinen Ort, wo sie ihre Hausaufgaben machen können.“ Auch psychische Probleme seien die Folge.

Notunterkünfte sind eine Gelddruckmaschine für Spekulanten und Investoren

Taylan Kurt, Grüne

Das kostet allerdings Geld – das der Senat nicht hat. Nötig sei daher ein grundlegender Wandel der Unterbringung. „Das gesamte System gehört reformiert“, sagt Kurt. „Notunterkünfte sind eine Gelddruckmaschine für Spekulanten und Investoren.“ Es dürfe nicht sein, dass mit Wohnungslosigkeit Geld verdient wird. Stattdessen brauche es ein gemeinwohlorientiertes System der Unterbringung. Würden Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe von sozialen Trägern geführt, könnten diese die Gewinne ins System reinvestieren, statt dass sich gewinnorientierte private Betreiber die eigenen Taschen voll machen.

Daran wird sich aber so schnell nichts ändern. Derzeit arbeitet der Senat zwar an einem Gesetz zur gesamtstädtischen Steuerung der Unterbringung, mit dem einheitliche und bessere Standards gelten sollen. Am System der privaten Betreiber wird sich dadurch aber nichts ändern.

Mangel an Frauenhäusern verschärft das Problem

Ein weiteres Problem bei der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen ist der Mangel an Frauenhäusern. Da diese wegen Überfüllung immer wieder Schutzsuchende abweisen müssen, landen die Familien ebenfalls in der Wohnungslosenhilfe.

In Berlin gibt es acht Frauenhäuser, weitaus weniger als vorgeschrieben. Laut geltender Istanbul-Konvention bräuchte die Hauptstadt rund 920 Schutzplätze. Insgesamt gibt es gerade mal die Hälfte. Die Kinder und Jugendlichen, die in Frauenhäusern leben, sind nicht in der Wohnungslosenstatistik enthalten und kommen noch obendrauf. Da Frauen und Familien angesichts des Wohnungsmangels immer länger in den Frauenhäusern bleiben müssen, sind auch ihre Aussichten prekär.

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