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Humanitäre Lage in GazaAuch wo es Nutella gibt, hungern Menschen

Im Gazastreifen gibt es auch im Krieg weiter Restaurants und Cafés. Mohammed Aref betreibt eines in Gaza-Stadt. Wie passt das mit Hunger zusammen?

Vorne am Tresen gibt es Desserts, hinter dem Restaurant wird für Hilfsorganisationen gekocht: Chef Hamadas Lokal in Gaza-Stadt Foto: Enas Tantesh

Gaza-Stadt/Tel Aviv taz | Im Restaurant von Chef Hamada auf der Al-Wahda-Straße in Gaza-Stadt lassen sich die beginnende Offensive der israelischen Armee und der Hunger für einen Augenblick vergessen. Eine dicke Nutellaglasur überdeckt kleine Pfannkuchen – und die Bitterkeit des Krieges. Drinnen gibt es Waffeln und Milchshakes, draußen stehen nebenan nur noch die Grundmauern des Nachbarhauses.

Chef Hamada, der eigentlich Mohammed Aref heißt, hat sein gleichnamiges Restaurant Ende Februar nach seiner Rückkehr aus Südgaza nach Gaza-Stadt eröffnet. Werbung für sein Geschäft macht Aref vor allem auf Instagram, wo ihm mittlerweile fast 70.000 Menschen folgen. Der potenziellen Kundschaft präsentiert der stets strahlende Aref dort Schokoladenkuchen, Pizza und Waffeln – ausgerechnet in Gaza-Stadt, für die Experten der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) erst im August eine Hungersnot ausgerufen hatten.

Darauf sind auch proisraelische Influencer und das israelische Außenministerium jüngst aufmerksam geworden. Die Berichte über eine Hungersnot im Gazastreifen bezeichnen sie als „vollkommen falsche Hamas-Kampagne“.

Mehrere Videozusammenschnitte auf dem offiziellen Youtube-Kanal des Ministeriums zeigen Lebensmittelmärkte und Restaurants wie das von Hamada in Gaza-Stadt. „Bilder lügen nicht“, steht dort auf mehreren Sprachen. Für sie ist klar: Wo es Schoko-Pfannkuchen gibt, kann keine Hungersnot herrschen.

Wir wollten auch ein Stück Normalität schaffen

Mohammed Aref alias Chef Hamada

Aref, der im echten Leben sehr viel ernster ist, macht das wütend. „Von meinem Geschäft leben alleine in meiner Familie 70 Menschen – natürlich mache ich Werbung, um Kundschaft zu bekommen.“ Anfang August hat Israel außerdem wieder kommerzielle Transporte von Gütern in den Gazastreifen genehmigt. Für die Nutella-Gläser aus seinen Videos habe er umgerechnet fast 90 Euro pro Glas bezahlt.

„Wir wollten auch ein Stück Normalität schaffen“

Aref führt durch das Restaurant. Als Mitte Januar die temporäre Waffenruhe für den Gazastreifen verkündet wurde, kehrte er nach Gaza-Stadt zurück und begann gleich mit der Renovierung des Lokals. Im vorderen Teil stehen nun Plastiktische, auf der Theke knetet ein Angestellter Pizzateig. Auf die Teigfladen legt er Dosenmais und Käse. Für umgerechnet 20 bis 30 Euro gibt es Milchshake, Pizza – und einen Moment Normalität, für die Wenigen, die es sich leisten können.

Im Restaurant ist am Nachmittag wenig los, die meisten Bewohner des Küstenstreifens haben nach zwei Jahren Krieg und Vertreibung kein Einkommen mehr. Viele haben ihre Ersparnisse längst aufgebraucht. Wer Lohn von außerhalb Gazas erhält, muss oft Kommissionen von rund 50 Prozent bezahlen, um an das Geld in bar zu kommen.

„Wir wollten auch ein Stück Normalität schaffen“, sagt der Unternehmer Aref, der mit 17 Jahren die Schule abgebrochen und seither in Restaurants gearbeitet hat. Während der Waffenruhe, bei der täglich rund 600 Lastwagen mit Hilfsgütern nach Gaza kamen, habe das gut funktioniert. Ab dem Beginn der israelischen Blockade im März sei es schwer geworden, noch Zutaten zu finden. „Anfang des Jahres konnte ich 70 Mitarbeiter beschäftigen, jetzt sind es noch halb so viele.“

Nahost-Konflikt

Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.

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Die Drehspieße für Schawarma sind leer. Fleisch habe er schon lange nicht mehr gehabt, sagt Aref. Es sollen jüngst auch zwei Lastwagen mit Hähnchen im Gazastreifen angekommen sein. Aber alles werde auf dem Schwarzmarkt verkauft – zu hohen Preisen und nach Regeln, die er selbst nicht verstehe.

Linsen und Reis für die Hilfsorganisationen

Vor der Türe ziehen Menschen mit leeren Töpfen auf dem Weg zu Ausgabestellen für humanitäre Hilfe vorbei. Im Restaurant spielt Musik, unterbrochen vom Klappern der Küchengeräte. Mitunter klirren die Fenster von Explosionen in der Ferne. In den Vororten von Gaza-Stadt ist bereits die israelische Armee vorrückt und bereitet sich auf die Eroberung der Stadt vor.

Große Töpfe für große Portionen: Hier wird für die vielen Bedürftigen in Gaza gekocht Foto: Enas Tantesh

Arefs wichtigste Einkommensquelle liegt im mit Planen überspannten Hinterhof. Dort kochen er und sein 30-köpfiges Team in großen Töpfen Linsen und Reis für die Verteilung durch Hilfsorganisationen. An den Wänden reihen sich Konserven mit Tomatensoße, Säcke mit Reis und Feuerholz, derzeit der einzige Brennstoff.

Die zwischenzeitlich astronomischen Preise seien mittlerweile leicht gefallen, der Hunger aber geblieben. Derzeit koste eine Reisfüllung für einen der gewaltigen Kochtöpfe für die humanitäre Verteilung umgerechnet 500 Euro, im Juli sei es noch dreimal so viel gewesen.

Dennoch reiche es meist nicht für alle, sagt Aref. Selten gebe es Gemüse, Früchte oder Eier, fast nie Fleisch. In Vorbereitung auf die Offensive auf Gaza-Stadt hat Israel humanitäre Pausen für Hilfstransporte in den Norden zudem bereits gestoppt, seither ziehen die Preise wieder an.

Ein neues Leben zwischen Trümmern

Seit Mai versucht Israel, etablierte Hilfsorganisationen zu verdrängen und die Bevölkerung über zentralisierte Verteilstellen der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) versorgen zu lassen. Für Nordgaza betreibt die Organisation nur eine Ausgabestelle, an der laut vielfacher Berichte chaotische Zustände herrschen. Mehr als 2.000 Hilfesuchende wurden seit Mai nahe der GHF-Zentren erschossen, die meisten von der israelischen Armee.

Für Pizza und Milchshake kommen schnell 20 bis 30 Euro zusammen Foto: Enas Tantesh

Olga Cherevko, die für das UN-Nothilfebüro OCHA in Gaza arbeitet, warnt zudem: Auch Videos von Märkten seien keine Beweise gegen eine Hungersnot. Selbst die gesunkenen Preise blieben für den Großteil der Bevölkerung weiter unbezahlbar: „Die meisten Familien haben nach fast zwei Jahren ohne Einkommen ihre Ersparnisse aufgebraucht“, sagt Cherevko am Telefon. Nutella, Chips und Instantnudeln könnten zudem niemanden gesund machen, der über Monate unterernährt war. Um eine Katastrophe zu verhindern, müsse der Gazastreifen mit Hilfsgütern „überschwemmt“ werden.

Der Kinderarzt Musab Farwana sagt am Telefon, sein Krankenhaus müsste eigentlich 500 Kinder pro Tag mit Spezialnahrung behandeln, die Vorräte seien jedoch erschöpft.

„Eine Menge aus Nichts“

Aref hat zu Kriegsbeginn seine Frau und die zwei Kinder aus Gaza herausbringen können, seit mehr als 600 Tagen ist er von ihnen getrennt. Nach der Flucht in den Süden landet er zunächst in Rafah und beschließt nach einigen Monaten ohne Arbeit, einen Essensstand aufzumachen.

Zunächst in Rafah, dann in Nuseirat in Zentral-Gaza hielt er sich seitdem mit Restaurants über Wasser, lebt in einem Zelt. „Im Sommer haben wir es vor Hitze kaum ausgehalten, im Winter hat der Regen alles überschwemmt“, erinnert sich Aref. Die erste Chance zur Rückkehr in den Norden nutzte er.

Bei Instagram zeigen seine Videos vom 28. Januar ihn in der Karawane der Zehntausenden Rückkehrer. Vom Haus seiner Familie nahe dem Al-Schifa-Krankenhaus findet Arif damals nur noch eine Ruine vor.

Seither haben viele versucht, sich zwischen den Trümmern wieder ein Leben aufzubauen. Aref deutet auf seinen Pizzaofen, den er aus Material aus den zerstörten Häusern habe bauen lassen. „Wir können hier in Gaza aus Nichts eine Menge machen. Aber wir sind erschöpft.“ Es mache ihm Angst, erneut vertrieben zu werden – und es nicht noch einmal auf die Beine zu schaffen.

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