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Generalstreik in FrankreichGelb ist das neue Rot

Gastkommentar von Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit

Die Bewegung „Bloquons tout“ will ganz Frankreich lahmlegen. Ihr fehlt politisches Können – profitieren wird vor allem die französische Rechte.

„Macron Explosion“: Am 10. September soll in Frankreich alles lahmgelegt werden Foto: Benoit Tessier/reuters

W er Frankreich in den 1950er Jahren kannte und die rasanten Veränderungen zur Kenntnis nahm, die um 1968 eingetreten waren, konnte der Diagnose des US-amerikanischen Frankreichkenners Stanley Hoffman zustimmen: „Frankreich ist deblockiert.“ Aus einem Agrarland war eine Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft geworden, nach einem Jahrhundert demografischer Stagnation bekamen die Französinnen überdurchschnittlich viele Kinder, die Fünfte Republik des Generals de Gaulle brach mit vielen alten Zöpfen ihrer Vorgängerinnen. 1970, zwei Jahre nach Hoffmann, veröffentlichte der französische Soziologe Michel Crozier den Bestseller „Die blockierte Gesellschaft“.

Beide Diagnosen waren damals berechtigt: Hoffman würdigte den großen Sprung, den die französische Gesellschaft gemacht hatte, Crozier monierte die Überreste des Ancien Régime, seine Überzentralisierung, seine etatistische Bürokratie, sinnfreie Hierarchien.

Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit

Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen und grüner Europaabgeordneter in Ruhestand, fechten seit Jahrzehnten für eine rationale und humane Migrations- und Flüchtlingspolitik. Der Klassiker „Multikulti. Spielregeln der Vielvölkerrepublik“ von 1990 ist in einer erweiterten Neuauflage 2011 im Blumenkamp Verlag erschienen.

Damit nahm Crozier Diagnosen der „Unregierbarkeit“ vorweg, die für alle entwickelten Industriegesellschaften galten, die sich seit dem Ende der „dreißig glorreichen Jahre“ mit Wirtschaftswachstum und Wohlstandsmehrung von einer Krise in die andere schleppen. Politikverdrossenheit, Unzufriedenheit mit den Eliten und populistisches Querulantentum waren die Folgen.

Das Gefühl, „alles geht den Bach runter“, ist nicht auf Deutschland beschränkt, französisch heißt der Mehltau, der sich über alles legt, „morosité“. Diese Depression bringt gerade eine diffuse Bewegung unter dem Motto „Bloquons tout!“ hervor, am 10. September soll das ganze Land lahmgelegt werden.

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Bayrous Flucht nach vorn

Die französische Geschichte kennt viele Varianten von Generalstreik und Massendemonstration – von den Aufmärschen der Arbeiterbewegung über faschistische Massenaufläufe, dem Pariser Mai/Juni und den Protesten gegen die Legalisierung der Homoehe. Vorbild der aktuellen Neuauflage ist der Aufmarsch der Gelbwesten 2019, der sich an eher schüchternen energiepolitischen Maßnahmen der Macron-Regierung entzündete und vor allem im Hinterland einen sozialstrukturell wie weltanschaulich gemischten Wutausbruch auslöste. Aufrufe zur diesjährigen Septemberrevolution bringen dieselbe Mixtur zum Vorschein.

Anlass war die Ankündigung von Premierminister François Bayrou, zur Schließung der eklatanten Haushaltslücken Renten einzufrieren, zwei Feiertage und Stellen im öffentlichen Dienst zu streichen. Auch Bayrous Vorläufer sind parlamentarisch wie auf der Straße schon mehrfach daran gescheitert, das Renteneintrittsalter zu erhöhen, während Frankreich sich immer stärker verschuldet und in der Rangliste der Wirtschaftsnationen zurückfällt. Auch dort meint man, dem begegnen zu können, indem klima- und umweltpolitische Maßnahmen vertagt werden. Bayrous Flucht nach vorn, kurz vor den Blockaden die Vertrauensfrage zu stellen, ohne mögliche Mehrheiten auszuhandeln, zeugt von der gleichen Kompromissfeindlichkeit.

Mitten im August war ausgehend von einem Telegram-Post in den sozialen Netzwerken eine Unzufriedenheitsblase gewachsen, die das Versprechen abgab, mit dem Totalstreik könne jeder „die Kontrolle über sein Leben“ wiedererlangen, die ein diffuser Feind (der tiefe Staat, das Establishment, ein arroganter Präsident, die Gesundheitsmafia, Migrantenclans) an sich gerissen habe. Womit eben nicht die soziale Ungleichheit, durch den Klimawandel verstärkte Extremwetter oder andere strukturelle Probleme des kaum korrigierten Wachstumsdogmas gemeint waren.

„Souveränistische“ Aversion

In Frankreich kommt immer eine „souveränistische“ Aversion hinzu, die auf die Europäische Union, multilaterale Politik und bisweilen wieder auf „outre-Rhin“ (Deutschland) zielt. Das kommt von der anhaltenden Schwäche eines liberal-demokratischen Zentrums, wo Rechts- und Linksaußen zusammentreffen.

Wer davon profitieren wird, dürfte klar sein. Das Rassemblement National braucht den Aufstand gar nicht für sich zu reklamieren, er ist ohnehin Wasser auf Le Pens Mühlen. Dass die links-autoritäre „France insoumise“ Jean-Luc Mélenchons zum „Generalstreik“ aufruft, war zu erwarten. Das ändert aber nichts am horizontalen Charakter dieser Bewegung, in der „Antisystem“-Gefühle mit Corona-Unmut eine generelle Paranoia nähren, die parlamentarisch von den Linksparteien nicht mehr einzufangen ist.

Und gilt einschließlich der Grünen, die sich dem Manöver Mélenchons opportunistisch anschlossen, und der Gewerkschaften, die vor einer Unterwanderung durch Rechtsradikale warnen, ihnen aber auch nichts entgegenzusetzen haben. Zwei Drittel der Französinnen und Franzosen befürworten die Blockadebewegung laut Umfragen.

Die Zusammenrottung einer orientierungslosen Masse zeugt von einem selbst­schädlichen Nihilismus

Eine Bewegung ohne politisches Können

Der Unterschied zu älteren sozialen Bewegungen besteht darin, dass diese humanistische und libertäre Utopien verfolgten und ein politisches Können an den Tag legten. Die Zusammenrottung einer individualisierten und orientierungslosen Masse Unzufriedener zeugt von einem selbstschädlichen Nihilismus.

Blockiert ist eine Gesellschaft des Weiter-so, die angesichts des auch in Frankreich virulenten Geburtenrückgangs das Renteneintrittsalter pauschal senken will, doch über Möglichkeiten einer befriedigenderen Arbeit, gerade auch für Handwerker und Landwirte, nicht nachdenken mag; die Sozialleistungen an die unteren zehn Prozent und Einwanderer kürzen will, aber Vermögen und Erbschaften der oberen Zehntausend nicht antasten mag.

Blockiert ist eine Gesellschaft und Politik, die auf gesellschaftliche Hitzewellen wie im August mit einem kopflosen Volksaufstand und der Abdankung der Regierung reagiert. Gefordert ist nun eine Gegenbewegung, die solche Denk- und Handlungsbremsen entblockiert.

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4 Kommentare

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  • Es kam wie es kommen mußte, die Lösungsansätze aller Parteien können es nicht verbessern, nur verschlechtern. Mit Sparen kann keine Wirtschaft wachsen, woher auch soll das Geld kommen, das ein Wachstum erzeugen soll?



    Auch die linke Idee, Reiche zu besteuern, wird nicht funktionieren, denn Geld, das bereits im Wirtschaftskreislauf ist, kann kein Wachstum erzeugen, es kann nur umverteilt werden, das wäre sozial und gesellschaftlich richtig!, aber gesamtökonomisch bliebe es ein Nullsummenspiel.



    Wachstum kann nur durch neue Investitionen erzeugt werden, das ist abe rmit Macron, der EU und dem Zeitgeist der in allen Parteien herrscht nicht möglich.

  • Es mag ja sein, dass die Protestbewegung kein ausgefeiltes politisches Programm hat. Vielleicht gibt sogar destruktive Elemente in der Protestbewegung .

    Aber soll sie widerstandslos den fortgesetzten neoliberalen Kurs mit seinem Abbau von sozialen Leistungen und Rechten von Regierung und Marcon hinnehmen? Aber drauf kommt es mir hier gar nicht an.

    Sondern eher auf die fehlende Analyse über die ökonomischen und politischen Krisenursachen, der beiden ökonomisch gut abgesicherten „alten weißen Männer“, die anscheinend in ihren historisch bedingten realpolitischen Denkmustern der 80/90 er Jahre hängen geblieben sind.

    Eigene konstruktive Vorschlägen und Lösungen ? So gut wie Fehlanzeige. Aber mit allen Fingern wieder auf die gesamte „Linke“ zeigen. Passt ja gut in unsere Zeit.

    Und schon fast menschenverachtend ist es aus meiner Sicht von einer „ Zusammenrottung einer orientierungslosen Masse“ zu sprechen.

    Junge, Junge, das ich dass als „alter weißer Mann“ noch erleben muss

  • "... Gegenbewegung, die Denk- und Handlungsbremsen entblockiert."



    Wo bitte kann ich da mitmachen?

  • Wenn man die französische Geschichte durchgeht, wächst die Erkenntnis, dass eine revolutionäre Bewegung sich ihre Köpfe selber schafft. Und niemand der ursprünglich Gesetzten - in diesem Fall der Rassemblement - ist am Ende noch die prägende Figur. Warten wir es ab, in dieser Disziplin sind wir auf der anderen Rheinseite ja nun mal die Experten.