Berichterstattung über Coronapandemie: „Medien haben die Regierung vor sich hergetrieben“
Der Kommunikationswissenschaftler Marcus Maurer hat die Berichterstattung großer Medienhäuser in der Pandemie untersucht. Die ausgewerteten Daten sind überraschend.

taz: Herr Maurer, der Bundestag hat kürzlich eine Kommission zur Aufarbeitung der Coronapolitik eingesetzt. Ist es wirklich nötig, über all das nochmal zu sprechen?
Marcus Maurer: Ich denke schon. Nicht, um nachträglich Dinge zurechtzurücken oder damit sich irgendwer bei irgendwem entschuldigt. Es ist wichtig, das aufzuarbeiten, um besser gewappnet zu sein, wenn so etwas noch mal passiert. Wie man das macht, ob man dafür eine Enquetekommission braucht, ist eine andere Frage.
geboren 1969, ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er forscht zu politischer Kommunikation und hat die Berichterstattung großer Medien in mehreren Krisen untersucht.
taz: Manche fordern eine Aufarbeitung, weil sie sich in der öffentlichen Debatte und in den Medien damals nicht wiedergefunden haben.
Maurer: Wenn wir über Medien sprechen, gilt das Gleiche wie für die Kommission: Wir sollten uns fragen, was falsch gelaufen ist, um es in der Zukunft besser zu machen.
taz: Sie haben untersucht, wie große Medien in den Jahren 2020 und 2021 über Corona berichteten. Was haben Sie festgestellt?
Maurer: Wir haben die Berichterstattung etablierter Online-medien wie spiegel.de, sueddeutsche.de welt.de oder bild.de und Fernsehnachrichten von ARD, ZDF und RTL ausgewertet. Dabei haben wir herausgefunden, dass die untersuchten Medien tatsächlich einseitig berichtet haben, sie waren sehr im „Team Vorsicht“. Manche mehr, manche weniger, aber alle haben deutlich vor der Pandemie gewarnt und für harte Maßnahmen plädiert. Das kann man gut oder schlecht finden. Normalerweise wollen wir eine vielfältige Berichterstattung, aber in der Pandemie standen wir vor großen Problemen, die gelöst werden mussten, da kann man das auch anders beurteilen.
taz: Die Medien waren der Regierung gegenüber zu unkritisch, lautete ein Vorwurf. Stimmt das?
Maurer: Das sehen wir so nicht in unseren Daten, im Gegenteil. Nach einer Anfangsphase, in der die Berichterstattung relativ positiv war, wurde die Regierung schnell stark kritisiert. Je länger die Pandemie gedauert hat, desto schärfer wurde die Kritik. Die von uns untersuchten Medien haben der Regierung vorgehalten, sich zu spät zu harten Maßnahmen durchgerungen zu haben.
taz: Der Regierungskurs wurde als zu lasch kritisiert?
Maurer: Ja. Den Medien generell wurde in der Pandemie ja vorgeworfen, dass sie der Regierung nur hinterhergelaufen seien. Unsere Auswertung hat jedoch ergeben, dass sie die Regierung vor sich hergetrieben und zu noch härteren Maßnahmen gedrängt haben. Sie haben einseitig berichtet, aber nicht unkritisch.
taz: Was ist bei dieser Einseitigkeit zu kurz gekommen?
Maurer: Die Auswahl der Experten war beschränkt, es gab einen starken Fokus auf Virologen. Das hat erst mal Sinn gemacht, denn es ging ja um ein Virus. Für die Beurteilung von Maßnahmen hätten dann aber andere Experten zu Wort kommen können. Was passiert mit einer Gesellschaft im Lockdown? Was mit Kindern, die nicht mehr in die Schule können? Was mit Selbstständigen, deren Restaurant pleite geht? Was mit alten Menschen, die alleine in Pflegeheimen sitzen? Das haben wir damals manchmal aus den Augen verloren.
taz: Es gab entsprechende Berichte.
Maurer: Aber verhältnismäßig wenig. Das ist auch verständlich: Man sieht dieses Problem vor sich, das dringend gelöst werden muss. Und man sieht nicht, dass die Maßnahmen, die die Infektionen eindämmen sollen, für manche Menschen auch große Probleme verursachen. Die gesundheitlichen und die psychosozialen und wirtschaftlichen Folgen wurden wenig gegeneinander abgewogen. Das zu tun, hätte am Ende ja nicht heißen müssen, dass man sich gegen Maßnahmen entscheidet. Aber die Menschen so aus den Augen zu verlieren, das war nicht unbedingt schön.
taz: Es gab auch damals Kritiker*innen der Maßnahmen, etwa aus der Querdenkenbewegung. Die kamen wenn, dann nur negativ in der Berichterstattung vor, hat Ihre Studie ergeben. Richtig?
Maurer: Das kann man so sagen. Allerdings muss man unterscheiden. Wenn jemand sagt, das Virus sei ungefährlich, harmlos wie eine Grippe, dann ist das eine falsche Tatsachenbehauptung, die muss man als Medium nicht transportieren. Das Problem war meines Erachtens, dass zu wenig über diejenigen berichtet wurde, die gesagt haben: Wir können diese oder jene Maßnahme machen, doch sie wird auch negative Folgen haben, und jetzt müssen wir das abwägen. Das wäre wertvoll gewesen. Es fehlte auch eine Einordnung der Informationen.
taz: Was meinen Sie?
Maurer: Die Zahlen von Infizierten und von Toten wurden ständig kommuniziert, aber der Vergleich etwa mit anderen Todesursachen kam nur ganz selten vor. Wie viele Menschen sterben an der Grippe an einem Tag? Oder wie viele an einem Herzinfarkt? Und wie viele im Vergleich an Corona? So hätten sicher mehr Menschen verstanden, wie schlimm diese Pandemie wirklich ist.
taz: Wie hat sich die Berichterstattung über Corona auf das Vertrauen der Menschen in die Medien ausgewirkt?
Maurer: Es gab zu Beginn der Pandemie einen Anstieg des Vertrauens in die Medien und auch der Mediennutzung. Die Menschen hatten ein Informationsbedürfnis, und zum Glück nutzen sie dafür im Wesentlichen immer noch klassische Nachrichtenmedien. Im Laufe der Pandemie ging das Vertrauen dann zurück. Über die Gründe kann ich nur spekulieren. Wahrscheinlich sind das Leute, die ihren Standpunkt in der Berichterstattung zu wenig wiedergefunden haben.
taz: Manche Journalist*innen fühlten sich damals sicherlich auch mitverantwortlich für den Fortgang der Pandemie. Es gab die Sorge, dass Berichte über negative Folgen der Maßnahmen deren gesellschaftliche Akzeptanz gefährden könnten.
Maurer: Was ist die Aufgabe von Journalismus in solchen Momenten? Das ist die Frage. Ich kann gut nachvollziehen, dass Journalisten ihren Teil dazu beitragen wollten, dass diese Pandemie möglichst schnell beendet wird. Aber wahrscheinlich hätte man das auch erreicht, wenn man ein paar Gegenargumente mehr beschrieben hätte. Menschen kriegen die Probleme ja trotzdem mit und fragen sich: Warum schreibt keiner darüber? Das kann dann kontraproduktiv sein. 10 bis 15 Prozent vertrauen den Medien inzwischen überhaupt nicht mehr. Vor der Pandemie lag dieser Anteil noch bei rund fünf Prozent. Das ist eine deutliche Veränderung, die man im Blick behalten muss.
taz: Ist die mediale Einseitigkeit während Corona auch auf den Rally-’round-the-flag-Effekt zurückzuführen, also, dass Journalist*innen sich in Krisen wie alle anderen stärker um die eigene Staatsführung scharen und Vielfalt weniger Raum hat?
Maurer: Das ist so. Die Regierung kommt in Krisenzeiten medial sehr viel stärker vor als die Opposition. Wir haben uns neben Corona auch die Berichterstattung in der Flüchtlingskrise 2015 und zu Beginn des Ukrainekriegs angeschaut, auch da sehen wir dieses Muster. Das muss gar kein gezieltes Anliegen sein. Medien sind in solchen Momenten auf Informationen der Regierung angewiesen, da passiert das automatisch. Bei jeder dieser Krisen haben wir zudem festgestellt, dass die Berichterstattung über die Regierung am Anfang der Krise positiver ist als normalerweise. In allen drei Krisen ließ das aber schnell nach.
taz: Gibt es dabei nicht große Unterschiede zwischen den Medien?
Maurer: Die taz schreibt normalerweise ganz anders über Themen als die FAZ, etwa über das Bürgergeld. In einer Krise berichten aber alle zunächst relativ gleich. Auch für Journalisten ist die Situation ja neu, es gibt eine große Unsicherheit, man verlässt sich erst mal auf die Vorschläge der Regierung, Journalisten orientieren sich auch aneinander. Bei Corona wurden die Unterschiede mit der Zeit wieder größer, etwa in der Beurteilung der Maßnahmen. Im Ukrainekrieg haben sich die Positionen eher angeglichen, da waren nach einigen Monaten fast alle für die Lieferung schwerer Waffen.
taz: Die nächste Krise kommt bestimmt. Was würden Sie Journalist*innen empfehlen – mehr Vielfalt wagen?
Maurer: Nicht bei allen Krisen geht es gleich um Leib und Leben wie bei Corona. Wenn das nicht der Fall ist, muss man auch nicht gleich Angst haben, Leben zu gefährden, wenn man mal jemanden zu Wort kommen lässt, der etwas anderes vertritt als die gängige Mehrheitsposition. Eine Vielfalt von Themen und Positionen ist ja eigentlich ein Gebot für die Medienberichterstattung, gerade für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. In existenziellen Krisen mag das etwas anders sein. Aber auch da wäre eine gewisse Vielfalt wichtig und richtig.
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