Premierminister Lecornu tritt zurück: Frankreich ist reif für eine Revolution
Macron ist verantwortlich für das Regierungschaos in Paris. Allein sein Rücktritt würde das Problem aber nicht lösen, es braucht einen Systemwandel.

E s war bloß ein Intermezzo: Noch bevor der von Präsident Emmanuel Macron ernannte Premierminister Sébastien Lecornu die Liste seiner zukünftigen Regierungsmitglieder vervollständigen konnte, war er bereits zum Rücktritt gezwungen. Das ist nichts anderes als das Eingeständnis seines Versagens. Es war ihm nicht gelungen, in fast vierwöchigen Verhandlungen vor und hinter den Kulissen eine Art informelle Koalition zu bilden.
Kaum hatte er die wichtigsten Ministerposten vergeben, wollten sich die konservativen Regierungspartner auch schon verabschieden. Mehrere prominente Sprecher der Partei Les Républicains, unter ihnen der bisherige und erneut nominierte Innenminister Bruno Retailleau, kritisierten Lecornus „Casting“ für eine Regierung. Offenbar hatten die Konservativen ein größeres Stück vom Kuchen erwartet. Oder aber sie wollen nicht mitverantwortlich gemacht werden für das absehbare politische Desaster einer weiteren ohnmächtigen Regierung. Kapitän Lecornu wollte nicht allein auf dem sinkenden Schiff bleiben.
Ein evidentes Scheitern ist die missglückte Regierungsbildung auch für den eigentlichen „Drahtzieher“, Präsident Macron. Er hat sich und dem Land ja diese vertrackte politische Situation mit der letzten Auflösung der Nationalversammlung im Juni 2024 eingebrockt. Aus den Neuwahlen sind drei Blöcke hervorgegangen, die zu keiner Koalition fähig sind und sich stattdessen gegenseitig blockieren. Lecornu kann für seinen Misserfolg nicht einmal kritisiert werden.
Neuwahlen reichen nicht aus
Die Augen richten sich auf Präsident Macron. Was hat er nun vor? Hatte er mit dieser Krisensituation gerechnet? War das eventuell Teil eines machiavellistischen Kalküls? Denn in dieser außergewöhnlichen Notsituation verfügt er laut der Verfassung über zusätzliche, eines Autokraten würdige Machtbefugnisse. In beiden Fällen kann der Unmut der Bevölkerung gegenüber der Staatsführung nur noch wachsen. In den Demonstrationen ertönt immer lauter der Ruf nach Macrons Absetzung. Auch bei den etablierten Parteien von links und rechts – und neuerdings sogar aus konservativen Kreisen – wird nun der Rücktritt des Staatspräsidenten als Befreiungsschlag aus der Krise erwogen.
Wie es dann weitergehen soll, ist offen. Weder parlamentarische Neuwahlen noch die eventuelle Wahl eines anderen Präsidenten oder einer Präsidentin könnten voraussichtlich die Bedingungen für einen wirklichen Neubeginn schaffen. Dafür wäre eine tiefgreifende Systemänderung erforderlich. Frankreich ist reif für eine politische Revolution. Lecornu hatte in seiner Antrittsrede von einem nötigen „Bruch“ gesprochen, dann aber weder den Mut noch die Mittel gehabt, über den Status quo hinauszugehen. Sein Rücktritt war folgerichtig, hilft aber zu gar nichts.
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