Neue Deportationsfotos entdeckt: Ein neuer Beweis – es geschah vor aller Augen
Forschende haben erstmals Fotos einer Deportation der NS-Zeit aus Hamburg identifiziert. Sie beweisen einmal mehr, dass dies vor aller Augen geschah.
Er war bekannt, aber bislang nicht im Bild bewiesen: Der Beginn der Deportationen jüdischer Menschen auch in Hamburg ging ganz alltäglich, aber keineswegs unauffällig vor sich. Zwar gab es Zeichnungen und Augenzeugenberichte, aber keinen öffentlich bekannten Fotobeweis.
Diese Lücke wurde jetzt geschlossen: Drei Fotos der Deportation Hamburger Jüdinnen und Juden am 25.10.1941 ins Ghetto Lódż/Litzmannstadt wurden identifiziert, von Forschenden der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte sowie des Projekts #LastSeen am Selma-Stern-Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg der Freien Universität Berlin.
Das ist ein so exklusiver wie bedeutender Fund, sind es doch die ersten bekannten Fotos der 17 Deportationen aus Hamburg überhaupt. Die Situation auf den Bildern wirkt auf den ersten Blick alltäglich: In Hut und Mantel gekleidete Männer, Frauen, auch Kinder mit Ranzen stehen mit ordentlich verschnürtem Gepäck vor Hamburgs „Logenhaus“ in der Innenstadt.
Dort mussten sich JüdInnen einfinden, um auf den Transport zum Hannoverschen Bahnhof zu warten, wo die Deportationszüge starteten. Die Menschen begrüßen sich, verabschieden sich voneinander, als gingen sie auf eine normale Reise. Die einzige Brechung der geschäftig wirkenden Szene sind die Wachpolizisten, die im Hintergrund vor ihren Mannschaftswagen stehen.
Doch die Reisenden schauen nicht verschreckt, und man sieht keine gelben Sterne. „Deshalb habe auch ich lange gezögert, diese Bilder als Deportationsfotos zu identifizieren“, sagt Oliver von Wrochem, Vorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte. Allerdings wurden gelbe Sterne für JüdInnen zwar ab September 1941 Pflicht, wurden aber erst nach und nach getragen. Auch die gelassene Geschäftigkeit der Menschen überrasche im Nachhinein nicht, sagt von Wrochem. „Es war ja die erste Deportation jüdischer Menschen aus Hamburg. Und viele wussten vermutlich nicht so genau, was ihnen drohte.“
Diese Unklarheiten haben wohl dazu geführt, dass die im Bilderalbum von Bernhardt Colberg, Mitglied des Hamburger „Polizeibataillons 101“, gefundenen Fotos bis dato als Evakuierungsfotos nach alliierten Luftangriffen galten. So hatte es das Hamburger Staatsarchiv dem US Holocaust Memorial Museum in Washington mitgeteilt, wo die Bilder verwahrt werden.
„Angesichts der Datierung ‚Oktober 1941‘ – denn da gab es keine nennenswerten Luftangriffe auf Hamburg – wurde ein Museumsmitarbeiter misstrauisch und gab mir Bescheid“, sagt Alina Bothe. Bothe leitet das 2021 zunächst von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, heute von der Alfred-Landecker-Stiftung geförderte Projekt #lastseen, das Deportationsbilder aus dem ehemaligen Reichsgebiet sucht, erforscht, digitalisiert und 2026 in einem Bildatlas veröffentlichen will.
„In der Tat wäre das Setting bei einem Evakuierungsfoto anders“, sagt Bothe. „Das Gepäck bestünde aus ungeordnetem Hausrat, und es wären keine Männer im wehrfähigen Alter zu sehen. Die waren ja an der Front. Auch hätten die Polizisten den Leuten geholfen, statt sie zu bewachen.“
Die Polizisten stehen übrigens nur scheinbar harmlos da: Denn die Polizeibataillons – rekrutiert aus der Ordnungspolizei – bewachten Transporte, Ghettos und nahmen an Massenerschießungen teil, wie das Hamburger Bataillon 101 im November 1943 in der ukrainischen Schlucht Babyn Jar.
Zudem wurden die Fotos am helllichten Tag gemacht und bezeugen einmal mehr, dass die Deportationen vor aller Augen geschahen. „Allerdings sieht man keine Bystander – anders als auf Fotos aus Eisenach oder Lörrach, wo die Nachbarn auf den Balkons standen und zuschauten“, sagt Bothe.
„Aber auch in Hamburg muss es aufgefallen sein, wenn sich 1.300 Menschen zur Sammelstelle begaben und später in einer Kolonne von Polizeiwagen weggefahren wurden“, sagt sie. Es war einer der frühen Transporte ins Ghetto Litzmannstadt, das anfangs als Produktionslager unter anderem für Wehrmachtsuniformen diente. Später wurden viele der darin festgehaltenen Menschen ermordet und das Lager in mehreren Wellen aufgelöst.
Bestimmt nicht der letzte Fund
Die Hamburger Bilder seien auch insofern bemerkenswert, „als die Gestapo zu einem späteren Zeitpunkt solche vermutlich privaten Fotoaufnahmen sicher unterbunden hätte“, sagt Oliver von Wrochem von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte. Auch unterscheiden sie sich deutlich von späteren NS-Propagandafotos, die Verfolgte in unwürdigen und rassistisch konnotierten Situationen zeigen.
Es werde wohl nicht der letzte Fund sein, sagt Alina Bothe: „Vieles liegt vermutlich noch in privaten Bilderalben. Aus Berlin zum Beispiel, wo es 180 Transporte gab, haben wir bisher kein einziges Foto gefunden. Dabei hatten zehn Prozent der Bevölkerung in den 1930ern Kameras. Es muss diese Bilder geben.“
Aber selbst wenn man die Fotos hat, kennt man noch nicht die Namen der Personen. „Anhand der Deportationslisten haben wir bislang niemanden auf den Hamburger Fotos identifizieren können“, sagt Bothe. Ab 4. November werden die Fotos daher im Geschichtsort Stadthaus, der einstigen Hamburger Gestapo-Zentrale, gezeigt – in der Hoffnung auf Hinweise aus der Bevölkerung auf die Identität von Opfern und TäterInnen.
Überhaupt sei diese Phase europäischer Geschichte fotografisch kaum öffentlich dokumentiert, sagt sie. Aus Norwegen und Dänemark, wo es jeweils einen Transport gab, habe man die Fotos. Aber Frankreich, Polen, Ungarn, Griechenland zum Beispiel seien noch blinde Flecken. Fernes Ziel sei daher eine gesamteuropäische Datenbank, um diese Lücke im gemeinsamen historischen Gedächtnis zu schließen.
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