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Marketingprofessor„Edeka, Lidl und Co sollten den Nutri-Score anbringen“

Immer weniger Lebensmittelhersteller nutzten die Nährwertkennzeichnung, sagt Marketingprofessor Spiller. Deshalb müssten die Supermärkte einspringen.

Nutri-Score im gelben Bereich: Viele Hersteller lassen die Nährwertkennzeichnung lieber weg Foto: Arnulf Hettrich/imago

Interview von

Jost Maurin

taz: Herr Spiller, der Nutri-Score zeigt seit fast genau 5 Jahren auch in Deutschland an, wie gesund Lebensmittel sind. Die Nährwertkennzeichnung reicht von einem A auf dunkelgrünem Grund bis zu einem E auf rotem Grund. Aber die meisten Nahrungsmittel haben das Label immer noch nicht. Woran liegt das?

Achim Spiller: Vor drei Jahren trugen nur 40 Prozent der verarbeiteten Lebensmittel den Nutri-Score. Inzwischen müsste der Wert sogar geringer sein, weil eine ganze Reihe von Herstellern in jüngerer Zeit ausgestiegen sind. Der offensichtlichste Grund ist, dass Unternehmen den Nutri-Score meiden, wenn zu viele ihrer Produkte schlecht bewertet werden, also mit Rot oder auch Gelb.

Bild: Marco Bühl
Im Interview: Achim Spiller

Der 61-Jährige ist Professor für „Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte“ an der Georg-August-Universität Göttingen und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesagrarministerium.

taz: Warum häufen sich die Ausstiege gerade jetzt?

Spiller: Es hat eine Veränderung der Nutri-Score-Berechnung durch die wissenschaftliche Kommission gegeben, die von den sieben teilnehmenden europäischen Ländern gegründet wurde. Zum Beispiel zählt nun der Ballaststoffgehalt stärker, so dass sich Vollkornmehl positiver auswirkt. Das hat dazu geführt, dass viele Backwaren jetzt negativer bewertet werden, denn wir haben in Deutschland einen Vollkornanteil von unter 10 Prozent in den Backregalen. Die neue Bewertung ist wissenschaftlich gut begründet, weil es sehr gute Studien zu den Vorteilen eines hohen Ballaststoffgehalts gibt. Nun ist aber fast die ganze Brotindustrie aus dem Nutri-Score ausgestiegen.

taz: Auffällig ist, dass gerade Markenprodukte wie Coca-Cola, Landliebe oder Barilla keinen Nutri-Score haben. Warum gerade diese „Premium“-Ware?

Spiller: Es sind fast nur noch die Handelsmarken der vier großen Supermarktkonzerne durchgängig gelabelt. Wenn jetzt die Herstellermarken auch labeln würden, würde offensichtlich, dass sie vielfach gesundheitlich genauso zu bewerten sind wie die Handelsmarke, die direkt daneben liegt und 30 bis 40 Prozent weniger kostet. Daran haben die Herstellermarken natürlich kein Interesse, wenn man mal von Ausnahmen wie Nestlé und Dr. Oetker absieht.

taz: Es gab auch immer wieder Kritik an angeblich unsinnigen Bewertungen. Ist das auch ein Grund, dass sich dieses System bisher nicht so durchgesetzt hat?

Spiller: Der Nutri-Score berücksichtigt keine Zusatzstoffe, keine Geschmacksverstärker und Ähnliches. Das kritisiert zum Beispiel die Biobranche, die bestimmte Zusatzstoffe nicht nutzen darf. Manche Öko-Hersteller sehen sich benachteiligt, weil sie beispielsweise Zucker nicht durch mehr Geschmacksverstärker oder Ähnliches ersetzen können. Das ist verständlich. Aber der Nutri-Score ist ein wissenschaftlich entwickeltes System und die EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit hat den Zusatzstoffen mithilfe von wissenschaftlicher Erkenntnis attestiert, unschädlich zu sein.

taz: Ist es auch ein Problem, dass offenbar viele Verbraucher den Nutri-Score nicht richtig verstehen?

Spiller: Ja, es gibt einiges an Irrglauben, der etwa durch die sozialen Medien wabert. Vielfach wird kolportiert, man könne nur direkt innerhalb von Warenkategorien vergleichen: also etwa nur einen Schinken mit einem anderen Schinken. Das stimmt nicht. Der Score wird im Wesentlichen für drei Produktgruppen gleich berechnet: erstens Getränke, zweitens Öle und Fette und drittens der ganze Rest. Ich kann sehr wohl damit einen Käse mit einer Wurst und einem Veggieaufstrich vergleichen. Ernährungswissenschaftliche Studien zeigen grundsätzlich: Die Menschen, die den Nutri-Score beachten, ernähren sich auch deutlich eher nach den Empfehlungen zum Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.

taz: Könnte das nicht auch daran liegen, dass sich diese Menschen sowieso gesünder ernähren?

Spiller: Die Studien belegen auch, dass der Nutri-Score insbesondere den Menschen hilft, die sich nicht so intensiv mit Ernährung beschäftigen. Der Nutri-Score ist die beste Gesundheitskennzeichnung, die wir haben. Auch wenn sie noch verbessert werden könnte.

taz: Wie denn?

Spiller: Bekanntestes Beispiel sind Tiefkühlpommes. Die sind berechnet ohne das Nachsalzen durch den Verbraucher nach dem Erhitzen. Jetzt kann man darüber diskutieren: Sollte bei solchen Produkten nicht die Menge Salz, die der Durchschnittsverbraucher dazugibt, einkalkuliert werden? Die Kommunikation des Lenkungsausschusses, den sich die beteiligten Länder für den Nutri-Score gegeben haben, muss deutlich besser werden. Sie muss den Herstellern mehr erklären, warum sie die Regeln geändert haben und Bevölkerung besser informieren.

taz: Was muss passieren, damit sich der Nutri-Score stärker durchsetzt in Deutschland?

Spiller: Auf reine Freiwilligkeit der Industrie zu hoffen, war naiv. Am klarsten wäre es, die EU würde den Nutri-Score verbindlich für alle Mitgliedsländer einführen. Das ist am Widerstand von Italien, Ungarn und Co. und ihrem Gastropopulismus gescheitert. Die Italiener haben eine sehr populistische Diskussion hochgezogen, dass ihre traditionellen Spezialitäten wie Parmesan-Käse oder Olivenöl nicht gut abschneiden würden. Da der Nutri-Score aus Frankreich kommt, wurde behauptet: Die Franzosen wollen uns unser Essen vorschreiben. Am Ende zog die EU-Kommission ihren Vorschlag zurück, so dass die europaweit verbindliche Einführung im Moment erst mal vom Tisch ist.

taz: Also?

Spiller: Deshalb wäre meine Empfehlung für Deutschland, zu prüfen, ob eine nationale Pflichtkennzeichnung rechtlich möglich ist. Das französische Parlament hat im November beschlossen, den Nutri-Score national verbindlich zu machen.

taz: Und falls Deutschland die Kennzeichnung nicht allein vorschreiben darf?

Spiller: Die großen Supermarktketten wie Edeka, Lidl und Co sollten den Nutri-Score selbst anbringen an allen Lebensmitteln: zum Beispiel auf den elektronischen Preisanzeigen, die jetzt zunehmend kommen. Der größte holländische Händler, Albert Heijn, zeigt das Label schon für so gut wie alle Lebensmittel an. Sogar für frische Produkte wie Kohl oder Äpfel. Bisher macht Albert Heijn das nur in Schwarz-Weiß. Aber das ist auf jeden Fall ein guter Schritt in die richtige Richtung.

taz: Gut möglich, dass dann wieder von rechts der Einwand kommt: „Die“ wollen uns sagen, was wir essen müssen.

Spiller: Aber man schreibt doch gar nichts vor. Man schafft nur Transparenz, ein Grundelement einer freien Marktwirtschaft.

taz: Dann könnte es heißen: Der Nutri-Score bedeutet mehr „Bürokratie“.

Spiller: Das Label ist ja simpel zu berechnen aus den sieben Nährwertangaben, die sowieso schon auf den Packungen stehen, aber eben in einer Form, die für Laien nicht so leicht verständlich ist. Und den zusätzlich für die Berechnung notwendigen Gehalt an Ballaststoffen, Obst und Gemüse et cetera kennen die Hersteller ganz genau. Der Handel redet jedes Jahr mit den Herstellern und kann sich diese Informationen von ihnen natürlich geben lassen. Da entstehen keine großen Kosten.

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