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Palliativmedizinerin übers Sterben„Stille ist was Feines“

Friederike Boissevain hat ein Hospiz auch für Kinder gegründet. Ein Gespräch über den Umgang mit Sterbenden und ihre langjährige buddhistische Praxis.

„Ich muss die Offenheit und den Mut mitbringen“, sagt Friederike Boissevain, „mich berührbar, auch verletzbar zu machen“ Foto: Kaja Grope

Interview von

Petra Schellen

taz: Frau Boissevain, war es leicht, ein Hospiz mitten in eine beschauliche Wohnsiedlung zu setzen?

Friederike Boissevain: Es war nicht leicht – zumal nicht Staat oder Kirche, sondern ein privater gemeinnütziger Verein der Träger ist. Ich musste bei der Landes- und Kommunalpolitik einige Überzeugungsarbeit leisten, vor allem für die Finanzierung. Und was die Anwohnerschaft betrifft: Die Bedenken sind selten laut geäußert worden, sondern waren eher unterschwellig. Denn zum einen blockiert unser Hospiz die Sicht auf eine freie Wiese. Auch haben wir von Anfang an gesagt, dass nun häufiger der Leichenwagen vorfahren wird, auch tagsüber. Und da es ein junges Wohngebiet ist, werden auch kleine Kinder das sehen und Fragen stellen. Überhaupt wird es mehr Betrieb geben, wenn hier ein Haus entsteht, in dem gestorben wird.

Im Interview: Friederike Boissevain

Jahrgang 1962, ist Fachärztin für Innere Medizin, Hämato-Onkologie, Palliativmedizin und Klinische Ethikberaterin an einem Schwerpunktkrankenhaus in Kiel. Seit 2012 ist sie auch Vorsitzende des Hospizvereins Dänischer Wohld. Zudem hat sie in Philosophie über Spiritual Care promoviert. Sie ist Zen-Lehrerin in der Tradition des Soto-Zen und hat mehrere Bücher verfasst, darunter eine Einführung in den Zen-Buddhismus und ein gemeinsames Buch mit dem japanischen Kalligrafiemeister Kazuaki Tanahashi. Zuletzt erschien von ihr im April 2025 „Blüten Fallen. Was Sterbende uns lehren“.

taz: Welche Bedenken?

Boissevain: Sie haben sich gesorgt: Was macht das mit meiner Ruhe, mit meiner Psyche? Sie haben gefragt, ob der Notarzt oft kommt, ob der Hubschrauber landet – dabei ist das hier ja kein Krankenhaus. Sie wollten wissen, ob das ansteckend ist. Ob sie hinschauen dürfen, wenn die kranken Kinder und Erwachsenen durch die Siedlung laufen oder gefahren werden. Ob man sie ansprechen darf. Andere haben gefragt, ob man mal eine Suppe vorbeibringen und sich ehrenamtlich engagieren kann.

taz: Konnten Sie die Sorgen zerstreuen?

Boissevain: Wir haben Informationsveranstaltungen gemacht und es versucht. Aber diese Sorgen – das sind Gefühle. Die kann ich nicht durch Aussagen wie „Nein, das ist nicht ansteckend“ oder durch Sachinformation abmildern. Ich kann nur zum Dialog einladen. Kürzlich hatten wir zum Beispiel einen Tag der offenen Tür für kranke und gesunde Kinder und ihre Eltern. Da konnten die Kinder basteln, aber auch mal Lifter und Rollstuhl ausprobieren. Und ein Bestattungsunternehmen hatte einen Kindersarg zum Bemalen zur Verfügung gestellt.

taz: Wie kam das an?

Boissevain: Wir waren anfangs unsicher, aber es wurde sehr gut angenommen. In dem Sarg war ein Herzchenbettzeug, die Maus und der Elefant aus der TV-Sendung lagen drin. Irgendein Kind hat dann angefangen, probezuliegen. Danach wollten das alle – und auch, dass der Deckel zugemacht wird. Da mussten die Eltern etwas schlucken … Insgesamt war es ein wunderbarer Tag des Austauschs, der gezeigt hat: Wir können zusammen leben, wenn wir das möchten.

taz: Sie sind als Onkologin im Krankenhaus gut ausgelastet. Warum haben Sie 2020 noch ein Hospiz gegründet?

Boissevain: Weil es damals in Schleswig-Holstein zu wenige Hospizbetten gab. Im Krankenhaus haben wir Menschen teilweise gar nicht mehr im Hospiz angemeldet, weil die Wartelisten so lang waren. Und am Sterben im Krankenhaus hat sich zwar viel geändert, aber trotz allem Guten und einer wachsenden Anzahl an Palliativstationen bleibt das Krankenhaus ein Ort des Handelns. Nicht ein Ort des medizinischen Rückzugs. Ich bin der Meinung, dass Sterben kein medizinischer Vorgang ist, sondern ein menschlich-philosophischer, den ich bestmöglich, aber auch so wenig wie möglich medizinisch begleite.

Der größere Anteil ist aber oft sozialer Schmerz, Bedauernsschmerz, Abschiedsschmerz – also ein Schmerz, den ich nicht mit Opiaten behandeln kann

taz: In welcher Form?

Boissevain: Wir sind im Hospiz sehr achtsam beim Einsatz distanzierender Medikamente am Lebensende. Die meisten Menschen möchten natürlich keine körperlichen Schmerzen haben. Die können wir meistens nehmen. Der größere Anteil ist aber oft sozialer Schmerz, Bedauernsschmerz, Abschiedsschmerz – also ein Schmerz, den ich nicht mit Opiaten behandeln kann. Dass man am Lebensende aber eine Bucket List abarbeitet, sich bei allen entschuldigt, sein Haus bestellt – das ist nach fünf Jahren Hospiz nicht meine Erfahrung.

taz: Sondern? Was wollen Sterbende?

Boissevain: Sie wollen wach sein, wahrnehmen und leben. Teilnehmen, bis ihr Boot immer weiter hinausfährt. Die wenigsten, die hierher kommen, möchten eine Auf-Knopfdruck-Beendigung ihres Lebens. Die klassische Palliativsedierung haben wir in den fünf Jahren unseres Bestehens auf Wunsch der Kranken ein-, zweimal gemacht.

taz: Ihr Hospiz bietet Erwachsenen- und Kinderbetten. Ist diese Kombination üblich?

Boissevain: Nein. Die größte Schwierigkeit war, ein Kinderhospiz anzugliedern. Es ist gesetzlich nicht vorgesehen, beides in einem Haus zu haben. Es muss räumlich und fiskalisch getrennt sein, um das Wohl der Kinder zu schützen. Weil ein Kinderhospiz so anders ist als ein Erwachsenenhospiz – und damit der Betreiber nicht einfach sagt: „Ich stelle ein Kinderbett dazu und werbe damit.“ Und dann kann er das inhaltlich und personell gar nicht erfüllen.

taz: Was ist bei Kindern anders?

Boissevain: Während Erwachsene meist nur die letzten Lebensmonate bei uns verbringen, wird ein Hospizaufenthalt für Kinder ab der Diagnose genehmigt. Mit Ausnahme der glücklicherweise seltenen Aufnahme eines sterbenden Kindes. Die Diagnose ist definiert als lebensverkürzende Erkrankung mit erhöhtem Versorgungs- und Pflegebedarf zu Hause und einer Belastung für die Familie. Außerdem werden bei Kindern Eltern und Geschwister mit aufgenommen.

taz: In welcher Verfassung sind diese Eltern?

Boissevain: Sie sind meistens schwerst traumatisiert. Hier bekommen sie einen Ort angeboten, um sich dem zu öffnen: ihren Enttäuschungen, Belastungen, den finanziellen, den familiären Sorgen – wie sich die Situation auf die Beziehung auswirkt. Oft sind es alleinerziehende Frauen, weil die Trennung stattgefunden hat. Ich glaube, statistisch sind es sogar 90 Prozent.

taz: Hängt das mit der Diagnose zusammen?

Boissevain: Ja, das hält die Beziehung nicht aus.

taz: Die Kinder kommen anfangs nur für ein paar Wochen?

Boissevain: Ja. Wenn man die Hospizkriterien im Kinderbereich erfüllt – was bei uns der Fall ist –, genehmigt die Krankenkasse sechs Wochen jährlich in Ausnahmesituationen. Das sind dann sogenannte Entlastungskinder. Denn viele der Eltern sind einfach nur müde, können – wenn sie noch zusammen sind – nichts gemeinsam unternehmen. Weil ja immer jemand beim Kind bleiben muss. Wir hatten Eltern hier, die es nicht fassen konnten, dass sie jetzt zusammen einkaufen gehen können. Und hier haben wir – toi toi toi – genügend wunderbare Pflegekräfte, die es ermöglichen, dass die Eltern nach einer Eingewöhnung nach Hause gehen können, um etwas für sich und die Geschwisterkinder zu tun. Nach ein paar Wochen holen sie ihr Kind dann wieder ab.

Wie gehe ich in so ein Zimmer? Denn mir muss bewusst sein: Ich bringe da nicht nur einen Kaffee rein. Sondern ich betrete die letzte Intimsphäre, die jemand hat: dieses Zimmer

taz: Kommen auch Menschen aus der Nachbarschaft zu Besuch?

Boissevain: Einfach so – nein. Der Hospizverein und auch das Hospiz selbst haben geschulte Ehrenamtliche, die unter anderem für Mahlzeiten zuständig sind. Aber wir möchten nicht, dass jemand nicht Geschultes hier reinspaziert und die Zimmer betritt, auch wenn es noch so gut gemeint ist. Denn die Menschen, die hier sind, haben kontinuierlich Abschied nehmen müssen von dem, was wir alle als unsere Identität bezeichnen: dass ich mich gut äußern kann, Dinge besitze, an einem bestimmten Ort wohne. Dass ich in den Spiegel schaue und weiß, wer ich bin. All diese Dinge werden mit ziemlicher Erbarmungslosigkeit genommen. Diese Menschen sind fragil geworden, in jeder Hinsicht. Dafür muss ich sensibel sein. Wir sprechen auch bei den Ehrenamtsschulungen darüber: Wie gehe ich in so ein Zimmer? Denn mir muss bewusst sein: Ich bringe da nicht nur einen Kaffee rein. Sondern ich betrete die letzte Intimsphäre, die jemand hat: dieses Zimmer.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

taz: Es geht um Würde.

Boissevain: Ja. Die Kranken hier sind tolle Lehrer allesamt. Aber ich muss auch die Offenheit und den Mut mitbringen, mich berührbar, auch verletzbar zu machen. Weil es schwierige Leben gibt, die schwierig bleiben bis zum Schluss, und Schicksalsschläge, die man sich gar nicht ausmalen kann. Und auch furchtbar traurige Geschichten, die in meinem Schoß landen. Da kann ich natürlich mit Abwehr reagieren. Oder ich kann sagen: Ich halte das jetzt aus, mit dir zusammen.

taz: Meinen Sie das mit „Orten des Nichtwissens“, an die man gehen soll?

Boissevain: Ja. Auch ich als Ärztin muss mal mein Fachwissen beiseite legen. Dann geht es darum, demjenigen auf Augenhöhe zu begegnen und zu fragen: „Wie ist das, wenn man hier liegt, nicht mehr zu Hause sein kann? Wie ist das, wenn man nur noch kurz zu leben hat? Wie begibst du dich auf diese Reise, die letztlich, trotz aller Palliativpflege und Forschung, ein Mysterium bleibt?“

taz: Wollen die Kranken über dieses Mysterium mit Ihnen sprechen?

Boissevain: Es kommt darauf an. Es ist wichtig zu spüren: Gibt es eine Öffnung? An manchen Tagen gibt es eine. Neulich war ich schon im Rausgehen und dann sagte derjenige: „Ach, ich hätte da noch was – ich habe gestern den Sensenmann gesehen. Hat das was zu bedeuten?“ Oft sind es auch beiläufige Fragen. Es ist selten, dass jemand sagt: „Ich habe heute übers Sterben nachgedacht.“ Wobei manche sehr gut mit Sprache umgehen können, weil sie das trainiert haben. Für andere – und das ist hier gar nicht selten – ist Sprache lebenslang weniger ihr emotionales Kommunikationsorgan gewesen. Da hilft es, immer mal wieder reinzuschauen. Oder den Spezialkaffee zu besorgen.

taz: Wie gut waren Sie selbst auf die Hospizarbeit vorbereitet?

Boissevain: Durch die Onkologie – und ich mache das ja schon eine Weile – dachte ich: „Das kenne ich. Ich habe im Krankenhaus die Palliativstation aufgebaut, die meiste Zeit meines beruflichen Lebens in der Onkologie gearbeitet. Und diese Zeit, wo wir die Therapie beenden und die Gespräche führen – die ist mir vertraut.“ Heute weiß ich: Ich war so was von naiv!

taz: Inwiefern?

Boissevain: Weil mir nicht klar war, dass das hier eine ganz andere Dimension hat. Einmal ist die Dichte der Begegnung im Hospiz eine andere als im Krankenhaus. Dort habe ich das Sterben nicht so mitverfolgt wie hier. Wir haben hier menschliche Reaktionen erlebt, die ich nie für möglich gehalten hätte.

taz: Zum Beispiel?

Boissevain: Die Mutter liegt im Sterben, und wir teilen das den Angehörigen mit. Aber der Sohn kommt nicht mehr. Nach zwei Wochen fragt er telefonisch nach, ob sie schon gestorben ist. Das war fürs Team schmerzhaft: Jemand, der vorher oft herkam und diejenige, die wir alle lieb gewonnen haben – und dann ist bei der Aussegnung keine Familie dabei. Da sind wir alle im Team in die Knie gegangen. Und es fällt nicht leicht, sich dann zu sagen: „Das ist kein falscher Mensch … der konnte das einfach nicht.“

taz: Sie sind auch aktive Zen-Buddhistin. Erleichtert das Ihre Arbeit?

Boissevain: Ja. Für mich ist das mein Leben. Meine Basis. Angefangen hat es, als ich 16 war. Das Wort Meditation kannte ich noch nicht, aber ich dachte: Stille ist was Feines. Ich habe zunächst in meiner eigenen christlichen Tradition gesucht, bei Dietrich Bonhoeffer, den Wüstenvätern des Urchristentums, dem mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart. Als ich einen Studienplatz in Medizin bekam, dachte ich: Wenn ich das machen möchte, brauche ich einen Rückhalt. Wenn ich weiterhin wie ängstlich-zittriges Espenlaub durch die Welt gehe, schaffe ich den Beruf nicht. Der übrigens nicht meiner ersten Neigung entsprach: der Germanistik.

taz: Wie kamen Sie dann auf Medizin?

Boissevain: Da gab es ein Schlüsselerlebnis: Als bei einer Schulaufführung unserer Theater AG die Leute klatschten, dachte ich: „Schön, dass ihr euch bedankt, aber ich weiß gar nicht, wer ihr seid.“ Ich wollte auch wissen, wer ich selbst bin. Wer die anderen sind. Was ich hier auf Erden soll. Es war natürlich eine Illusion, das in der Medizin, der „Lehre vom Menschen“ oder im Anatomiekurs zu erfahren. Das Studium war entsprechend furchtbar für mich, aber dank Disziplin habe ich durchgehalten. Parallel ging dieser meditative Weg los.

taz: Wie nahm dieser Weg Fahrt auf?

Boissevain: Eine Benediktinerin, ausgebildete Zen-Lehrerin, begann in Bayern, wo ich damals lebte, Meditationskurse anzubieten. Ich nahm teil und so begann mein Zen-Weg.

Aber als mich diese kleine Ordensfrau begrüßte, ist irgendwas passiert. Ich habe mich gesehen gefühlt

taz: Haben Sie dort Antworten gefunden?

Boissevain: Jedenfalls eher als in der Anatomielehre. Wobei ich nie Buddhistin werden wollte, das war mir völlig fremd. Der Zen-Kurs bei besagter Benediktinerin war eher ein Test. Aber als mich diese kleine Ordensfrau begrüßte, ist irgendwas passiert. Ich habe mich gesehen gefühlt. Diese streng disziplinierte Frau, die nicht auf den ersten Blick Fürsorge, Mitgefühl, Liebe verkörperte, hatte etwas, das ich nicht beschreiben konnte. Das wollte ich auch haben. Die Zen-Kurse der ersten Jahre waren dann eine neue Erfahrung: Ich als jemand, der gewohnt war, durch Wissen Sicherheit zu erschaffen, saß auf meinem Meditationskissen und verstand von den Vorträgen kein Wort.

taz: Parallel haben Sie als Onkologin im Krankenhaus angefangen. Lief es da besser?

Boissevain: Die ersten Berufsjahre habe ich in einem Zustand der Dauerpanik verbracht. Ich hatte Angst vor jeder Krankenzimmertür. Hatte Sorge, es nicht zu schaffen, den Patienten zu schaden. Hatte Angst vor dem, was auf mich projiziert wird: dass ich helfen kann – nur, weil ich einen weißen Kittel trage. X-mal habe ich gedacht: Wenn ich jetzt wegrennen würde, wäre es das Allerbeste.

taz: Wie haben Sie durchgehalten?

Boissevain: Ich habe es durch Wissen kompensiert. Ab Sonntagmittag hatte ich Herzrasen, bin in die Klinik gefahren, habe mir die Neuzugänge des Wochenendes angeguckt, um gut vorbereitet zu sein. Und mich dann auf mein Meditationskissen zu setzen und ab und zu ein bisschen Ruhe zu spüren: Das war eine enorme Hilfe.

taz: Konnten Sie diese Ruhe in den Alltag hinüberretten?

Boissevain: Lange Jahre hatte ich größte Schwierigkeiten, das länger als ein paar Tage zu halten. Zwischen den Erfahrungen der Kurswoche und meinem Alltag lagen Kontinente. Besagte Benediktinerin, die in der Sicherheit des Ordens lebte, konnte sich das nur so ungefähr vorstellen: dass wir jungen Ärztinnen und Ärzte 48-Stunden-Dienste hatten. Dass wir oft für Überstunden angefragt wurden und uns beugten, damit unsere Verträge verlängert wurden. Damals herrschte Ärzteschwemme, das kann man sich heute kaum noch vorstellen.

taz: Gab es einen spirituellen Wendepunkt?

Boissevain: Ja. Bei einem Gottesdienst, als besagte Benediktinerin mit Hostie vorm Altar stand, hab ich gespürt: Sie wendet sich an ein Gegenüber. Und ich hätte gern eine Spiritualität ohne Gegenüber. In den Folgejahren habe ich Kurse in verschiedenen Zen-Klöstern in den USA absolviert, unter anderem in einem Schweigekloster. Das hat mich zum Wesentlichen gebracht: Ich setze mich vor die weiße Wand, habe kein Wort, keine Visualisierung, kein Ziel, keine Agenda. Und alles, was da kommt, kommt aus mir, ist meine innere Weisheit.

taz: Was hat das bewirkt?

Boissevain: Das hat mein Leben einmal komplett umgestülpt. Ich bin in fast jeder Hinsicht eine andere Person als vorher. Früher habe ich mich zu 100 Prozent über das definiert, was meine Außenwelt sagt. Habe versucht, deren Erwartungen zu entsprechen und mich beschimpft, wenn es misslang. Kein sehr glückliches und vor allem kein freies Leben. Im Kloster habe ich diese Muster erstmals verstanden und eine echte Verbundenheit mit mir selbst und anderen erfahren. Ohne das wäre ich nie aus meinen familiären Prägungen herausgekommen.

taz: Welche waren das?

Boissevain: Ich hatte schon früh das Gefühl, etwas stimmt nicht in der Welt. Es gibt Ungerechtigkeiten und Leiden. Aber als Kind lernte ich: Schmerz und Unwohlsein dürfen nicht sein. Dass es Alter, Krankheit, Tod gibt und ich darunter leide, ist falsch und muss zugedeckt werden. Die buddhistische Praxis hat mir gezeigt, dass Leiden etwas Natürliches ist – und dass es möglich ist, hineinzugehen und es langsam schmelzen zu lassen.

taz: Geht es dabei auch ums Nichturteilen, ums Annehmen?

Boissevain: Ja und nein. Ich bin ja auch Zen-Lehrerin und habe immer ein ungutes Gefühl, wenn meine Schüler sagen: „Ich nehme alles an. Alles ist gut.“ Denn gerade im Moment ist vieles auf unserer Welt gar nicht gut! Und Zen-Praxis ist auch eine Praxis des Aufstehens und Sagens, was nicht gut ist – gesellschaftlich, zwischenmenschlich, wie auch immer. Als Übende des Zen bin ich verpflichtet, da meine Gestalt auch zu zeigen, nicht nur zu schweigen: Verwische deine Spuren, aber zeige deinen Körper!

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