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Fahren ohne FahrscheinOhne Ticket, aber mit Schild

In Leipzig ist eine Person freigesprochen worden, die mehrmals ohne Ticket gefahren war. Wie ein Schild half, den Unterschied zu machen.

„Kostenlose Mobilität für alle wäre ohne Weiteres finanzierbar“, sagt die freigesprochene Person zur taz Foto: Reinhard Krull/istockphoto/getty images

„Ich bin optimistisch, dass es bei dem Freispruch bleibt“, sagt Sascha K. der taz am Telefon. Bei Kontrollen in einem Zug der Deutschen Bahn war K. mehrmals ohne Fahrschein angetroffen worden. Dann kam die Anzeige und schließlich ein Strafbefehl. K. sollte eine Geldstrafe von über 1.000 Euro zahlen, legte Widerspruch ein, es ging vors Amtsgericht Leipzig – und dort gab es Mitte November den Freispruch.

Das Fahren ohne Fahrschein ist strafbar. Geregelt ist das in Paragraf 265a des Strafgesetzbuchs unter der Bezeichnung „Erschleichen von Leistungen“. Darauf gibt es eine Geld- oder eine Freiheitsstrafe. In den meisten Fällen wird eine Geldstrafe ausgesprochen. Wer diese nicht zahlen kann, muss eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. Insgesamt landen Expertenschätzungen zufolge pro Jahr 9.000 Menschen wegen Fahrens ohne Fahrschein im Gefängnis. Die meisten sind arm und ohne festen Wohnsitz.

Auch für Sascha K., der volle Name ist der taz bekannt, sind die Fahrpreise der Bahn zu hoch. „Viele Menschen können sich Mobilität nicht leisten“, sagt K. der taz Ende November am Telefon, findet aber: „Mobilität muss für alle zugänglich sein, unabhängig vom Geldbeutel.“ Ende 2023 fuhr K. daher das erste Mal mit einem Schild, größer als DIN A4. Gut sichtbar stand darauf: „Ich fahre umsonst, das heißt ohne gültigen Fahrschein. Mobilität sollte keine Klassenfrage sein. Es ist genug für alle da.“

K. hatte sich vorher mit Freun­d*in­nen und Ge­fähr­t*in­nen ausgetauscht, sich über Gerichtsurteile erkundigt und entschieden, es selbst mal zu versuchen. Seitdem ist es „jedes Mal ein kleiner Adrenalinstoß, wenn ich weiß, es kommt gleich zum Gespräch“. Das läuft in der Regel so ab: K. trägt das Schild gut erkennbar am Körper. Kommt ein*e Kon­trol­leu­r*in und fragt nach dem Ticket, sagt K.: „Ich habe keins.“ Warum? „Weil ich es mir nicht leisten kann.“ Daran schließe sich oft die Frage nach dem Schild und ein Gespräch über kostenlose Mobilität und die Strafbarkeit von Fahren ohne Ticket an, erzählt K. In der Regel nähmen die Kon­trol­leu­r*in­nen den Vorfall auf, mit dem Vermerk, dass die Person ein Schild dabeihatte und was darauf stand.

Mobilität muss für alle zugänglich sein, unabhängig vom Geldbeutel

Sascha K.

Das Schild macht den Unterschied

Das Schild machte vor Gericht den Unterschied. Einem Urteil des Bundesgerichtshofs von 2009 zufolge macht sich nach Paragraf 265a strafbar, wer sich mit dem „Anschein umgibt“, ein ordnungsgemäßer Fahrgast zu sein. K. und zwei Lai­en­ver­tei­di­ge­r*in­nen argumentierten, weil K. sichtbar ein auffälliges Schild dabeihatte, das darauf hinwies, dass K. kein Ticket hatte, sei nicht versucht worden, diesen Anschein zu erwecken. Richter und Staatsanwaltschaft stimmten dem zu und das Gericht sprach K. frei.

Die Staatsanwaltschaft hat dennoch Rechtsmittel eingelegt: Sie argumentiert nun, K. habe mit Betreten des Zugs ohne Ticket Hausfriedensbruch begangen.

Ruben Gradl, einer der Laienverteidiger von K., hält die Argumentation für „eine neue Albernheit“, die ihm zum ersten Mal unterkomme, und er beschäftige sich seit vielen Jahren mit dem Thema. Rechtlich sei das „ziemlich wackelig“. Wenn allein das Betreten eines Zugs ohne gültigen Fahrschein schon verboten sei, dann betreffe das auch alle, die nur einen Koffer für ei­ne*n Rei­sen­de*n in den Zug tragen. So argumentierte selbst der Richter am Amtsgericht Leipzig (schriftliches Urteil liegt der taz vor).

Gradl nennt sich „Aktionsschwarzfahrer“ und stand selbst bereits mehrfach wegen Fahrens ohne Fahrschein – aber mit einem ähnlichen Schild wie K. – vor Gericht. Die Verfahren wurden immer eingestellt. Ab und zu verteidigt er andere Menschen in ähnlichen Fällen – das nächste Mal am 18. Dezember in Einbeck, zwischen Göttingen und Hildesheim. Streitgegenstand ist eine einzige Fahrt, Streitwert 3 Euro.

„Aktionsschwarzfahrer“ nennt Gradl sich, weil er nicht einfach nur Geld sparen, sondern auf einen aus seiner Sicht Missstand aufmerksam machen will. „Der Paragraf 265a gehört abgeschafft“, sagt er der taz am Telefon. „Öffentlicher Verkehr muss kostenlos sein.“ Warum? Die Strafbarkeit vom Fahren ohne Fahrschein sei „sozial ungerecht“. Sie treffe Menschen in prekären Situationen besonders hart. Wer wegen 265a ins Gefängnis müsse, verliere Wohnung, Job und Umfeld, soweit vorhanden. „Da bricht einfach alles weg.“ Und das, weil sich der Staat zum Erfüllungsgehilfen von privatrechtlichen Angelegenheiten mache. Länder wie Italien hätten die Ersatzfreiheitsstrafe längst abgeschafft.

„Der Staat investiert falsch“

„Kostenlose Mobilität für alle wäre ohne Weiteres finanzierbar“, sagt Gradl und verweist auf ein Positionspapier des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen aus dem Jahr 2019. Darin werden die gesamten Ticketeinnahmen in Deutschland mit 13 Milliarden Euro pro Jahr beziffert. „Dem Staat mangelt es nicht an Geld, das zu finanzieren, er investiert nur falsch“, sagt Gradl. Statt in kostenlose Mobilität mit Bussen und Bahnen zu setzen, subventioniere der Staat die Kerosinsteuer von Fluggesellschaften und fördere den Autoverkehr unter anderem durch die Pendlerpauschale. „Mit den 100 Milliarden ‚Sondervermögen‘ für Rüstung könnten stattdessen alle Menschen zehn Jahre zum Nulltarif Bahn fahren.“

Kampagnen zum sogenannten Schwarzfahren gab es immer mal wieder. Die letzte größere Aktion liegt allerdings über 20 Jahre zurück: 2004 hatte das Bündnis „Recht auf Mobilität – Fahrt Schwarz“ in Berlin mehrfach zu „Schwarzfahrertagen“ aufgerufen, wie damals in der taz zu lesen war. Als Sprecher des Bündnisses trat der damalige Politikprofessor Peter Grottian auf. Fällige Bußgelder zahlten der Professor und seine Mitstreiter zum Teil aus eigener Tasche.

Ein Jahr später versuchte es die Gruppe FelS (Für eine linke Strömung) mit dem „pinken Punkt“: Nachdem an der Freien Universität das Semesterticket gescheitert war, war die Idee, sich pinke Buttons an die Jacke zu heften und sich darüber zu spontanen Pinkfahrgruppen – also dem Fahren ohne Ticket – zusammenzuschließen. Später bezeichnete die Gruppe die Kampagne als gescheitert, man habe „zu viel vorausgesetzt“: Die spontane Selbstorganisierung mit der Aussicht auf eine mögliche Konfrontation mit Kontrolleuren – „das war auch für die linken Studis oft ein zu großer Schritt“.

Einen anderen Weg geht seit 2021 die Initiative Freiheitsfonds um Frag-den-Staat-Gründer Arne Semsrott: Sie hat seitdem nach eigenen Angaben rund 1.500 Menschen aus Gefängnissen „befreit“, die wegen Fahrens ohne Ticket einsitzen. Das politische Ziel des Freiheitsfonds ist aber das gleiche wie das von „Aktionsschwarzfahrer“ Gradl: Die Initiative fordert, das Fahren ohne Fahrschein zu entkriminalisieren und den ÖPNV kostenlos nutzbar zu machen.

In der Vergangenheit gab es immer wieder Gesetzesinitiativen, um das Fahren ohne Fahrschein zu entkriminalisieren, zuletzt von der FDP. Nach den Neuwahlen und weil die FDP aus dem Bundestag ausschied, wurde der Entwurf aber nicht weiter diskutiert. Stattdessen haben Mitte November sowohl die Linke als auch die Grünen eigene Entwürfe in den Bundestag eingebracht. Auch Justizministerin Stefanie Hubig (SPD) kann sich das vorstellen.

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