Lärm Distanz wahren, um Nähe zu beschreiben: Die Münchner Band Candelilla mischt auf ihrem Album „Camping“ den Postpunk auf
: Lieder aus dem Limbus

Band Candelilla: drinnen Wärme und Gewissheit, draußen die dräuende Wildnis. Oder umgekehrt Foto: Matthias Kestel

von Julia Lorenz

Am Anfang waren da Leim und Kinderhände. Ena Oppenheimer, eine Münchner Künstlerin, beobachtete ihre Tochter bei einem Experiment: Die Kleine knetete eine Masse aus Kleber und Waschmittel. „Guck mal, Mama!“, soll sie gesagt haben, als Oppenheimer die Kamera nahm und abdrückte.

Schmale Finger umschließen Undefinierbares: Dieser Schnappschuss ziert das Cover von „Camping“, dem neuen, dritten Studioalbum der Münchner Band Candelilla. Die Geste habe ihr gefallen, sagt Mira Mann, Bassistin des Quartetts. Denn sie bilde einen Moment ab, in dem man etwas preisgibt. Es ist ein seltsames Bild, zärtlich und befremdlich zugleich, das dem Klang der Gruppe Gestalt gibt.

Schon in Jugendtagen gründeten Mira Mann und Pianistin Rita Argauer eine Band, später stießen Gitarristin Lina Seybold und 2007 schließlich Schlagzeugerin Sandra Hilpold zu Candelilla. Mit Argauer und Seybold teilt sich Mann das Mikrofon, die Songs entstehen immer als Gemeinschaftswerke.

Zwischen all den klugen, wütenden Bands des hiesigen Postpunkrevivals okkupieren Candelilla eine Sonderrolle. Drastischer als artverwandte Bands verweigern sie sich klassischen Popprinzipien – etwa indem sie die Songs auf ihren letzten beiden Alben „ReasonReasonRea­son­Reason“ und „Heart ­Mutter“ nicht betitelten, sondern schlicht nummerierten. Für Candelilla gleichen ihre Stücke Versuchsanordnungen.

Auch „Camping“ ist weit entfernt von konventionellem Pop, entstand jedoch unter völlig anderen Bedingungen als die Alben davor. Reisten Candelilla für „Heart Mutter“ noch nach Chicago, um sich vom Krachfachmann Steve Albini produzieren zu lassen, taten sie es nun Tocotronic gleich und nahmen die neue Platte in Tobias Levins Electric Avenue Studios in Hamburg auf, der einst das Toco-Meisterwerk „Weißes Album“ produzierte. Konträre Erfahrungen für die Band: „Steve Albini hat uns machen lassen, wir in unserem Bandgefüge waren heilig für ihn“, sagt Mira Mann. „Tobias Levin hingegen wollte uns herausfordern, und das hört man dem Album an. Die Songideen auf ‚Camping‘sind viel geschliffener als auf dem letzten Werk.“

Mehr noch: Mit chirurgischer Präzision wird hier operiert. Nachdem das Instrumentalstück „Augen“ mit Piano und gellenden Gitarren die Tür zur Twilight Zone aufgestoßen hat, folgt mit dem Wortstakkato zu Beginn von „Hand“ eine Art Handlungsanweisung. „Überprüfen, verwalten, errechnen. Bearbeiten. Durchsuchen, vergleichen, entziffern“, ruft Mann in die atonale Dämmerung. Candelilla vermessen den Körper, zählen „33 Muskeln, 27 Sehnen“, kartografieren Intimsphären.

Akkurate Texte

Kühle Romantik

„Das Album ist ein Plädoyer für ­Ehrlichkeit“, sagt Bassistin Mira Mann. „Aber das kostet Kraft. Und Intimität zu zeigen ist auch immer etwas ­gruselig“

Ihr Mittel der Wahl ist Reduktion. Keine Phrase, die den Wert des treffenden Worts schmälern soll. „In den Texten wollte ich akkurat sein, so nah ranzoomen wie möglich“, sagt Mira Mann. „Ich habe mich so stark auf einzelne Wörter konzentriert, weil ich es ernst damit meine, keinen Scheiß zu erzählen. Ich wollte nur das sagen, was ich sagen kann. Und eben dann aufzuhören, wenn man mit Sprache nicht mehr weiterkommt.“

Distanz wahren, um Nähe zu beschreiben: So geht es bei Candelilla. Stoisch tönt der Bass, während man von Müdigkeit und dem Ende des Sommers singt. Darüber dissonantes Gitarrenrauschen – manchmal wie durch Milchglas fallendes Licht –, abgelöst von trockenen Riffs, die den Ernst der Vocals vorwegnehmen. Als wäre die Band Malaria! aus dem Westberlin der frühen Achtziger in eine Baracke am Stadtrand geflohen, um Michael Hanekes Film „Funny Games“ zu vertonen.

Mira Mann weiß, dass es Unbehagen auslöst, romantisch Konnotiertes kühl zu sezieren. „Das Album ist ein Plädoyer für Ehrlichkeit“, sagt sie. „Aber das kostet Kraft. Und Intimität zu zeigen ist auch immer etwas gruselig.“ Nackt sein, Blut sehen, Haut spüren: Es sind Zustände größter Unmittelbarkeit, die gleichermaßen berauschen und Angst auslösen. Candelilla erkunden diesen Limbus zwischen Reiz und Schrecken, stiften emotionale Verwirrung.

Auch mit dem Albumtitel. „ ‚Camping‘hat uns allen aus unterschiedlichen Gründen gefallen“, sagt Mann. „Manche fanden die Referenz auf Susan Sontags Essay ‚Notes on Camp‘toll, ich denke eher an den Stoff eines Zelts, der den schlafenden Körper wie eine Membran von der Natur abschirmt.“ Drinnen also: Wärme und Gewissheit, draußen die Wildnis. Oder umgekehrt. Noch so ein Bild, das Candelilla trefflich beschreibt.

Das Album: „Camping“ (Trocadero/Zickzack/Indigo)

Die Tour: 15. 4., München, Milla; 16. 4., Kusel, „Willkommen im Dschungel“-Festival; 18. 4., Oberhausen, Druckluft; 19. 4., Dresden, Ostpol; 20. 4., Leipzig, Spelunke; 21. 4., Berlin, Kantine am Berghain; 22. 4., Hamburg, Golem; 24. 4., Erfurt, Frau Korte; 25. 4., Frankfurt, Klapperfeld; 26. 4., Nürnberg, MUZclub; 27. 4., Karlsruhe, Kohi; 28. 4., Saarbrücken, u2raum; 29. 4., Schorndorf, Manufaktur