Ist die Welt noch zu retten?

Theater Im Berliner Gorki-Theater hat Falk Richter seinen Text „Verräter – Die letzten Tage“ inszeniert: ein irrer Kommentar zur Debatte um Übersehene und Abgehängte

Ein Phantasma sammelsurischer Art, mit feiner schauspielerischer Leistung: Szene aus „Verräter“ Foto: F.: U. Langkafel

von Jan Feddersen

Fast am Ende der keineswegs zu langen, pausenlosen zwei Stunden wird die eigentliche Pointe des Stücks offenbart: Das ist, als sich zwei der Schauspieler im Berliner Gorki-Theater über Didier Eribons Buchschlager „Rückkehr nach Reims“ lustig machen. Nicht direkt über den Inhalt, denn das wäre ja ein Dementi des Stücks selbst, das ja von nichts anderem als von Verrätern und Verrat in politischer und kultureller Hinsicht handelt. Beide Akteure sprechen den Titel des in post-traditionslinken Milieus populären Buchs ironisierend aus. Mehrmals. Gedehnt das Wort „Reims“ – überfranzösisch quasi. Und hören sich an: ratlos. Dann liest der eine eine Passage aus dem Buch vor: ein Theaterstück als Lektüre-Übung im Phonetischen.

Darum geht es also: dass das geheime Drehbuch des Abends ein Buch aus dem Französischen ist, das alle künstlerische Welt, die auf sich hält, liest oder gelesen hat. Falk Richter, Theaterautor von hohem zeitdiagnostischem Bewusstsein, hat sich offenbar auch in dieser Lektüre bewegt – und eben das Thema „Verräter“ herauskristallisiert als klassenübergreifende Überschrift seiner Überlegungen: Verrat. Sechs Schauspieler*innen arbeiten sich in dem von Richter auch inszenierten Abend „Verräter – Die letzten Tage“ an ihren Biografien, an ihren Einfällen zum Verratsthema ab.

Die Bühne – eine Abraumhalde schwärzester Art, darauf Hocker, auf einer Seite eine Band, denn das Stück musikalisch irgendwo aus dem Punkigen anfüttert, auf der anderen Seite ein Sofa, wie es in Berlins Kreuzkölln herumstehen könnte, ein ästhetisches Empfinden des Vernutzten, kein nobles Detail findet sich zum Angucken. Hier erzählen sie also, kaum in Dialogen, eher in Statements, wie und in welcher Hinsicht sie verraten haben oder es noch tun könnten.

Die eine erzählt von der Verarmung nach dem Zusammenbruch der DDR, ein anderer vom Verrat an seinem Liebsten in homophober Atmosphäre in Istanbul. Es folgen Szenen, in denen sie auf den Hollywoodfilm „La La Land“ anspielen, ob man mit dessen Ästhetik der Frage der Kollaboration von Juden in den NS-Konzentrationslagern künstlerisch beikommen kann.

Dass da ein roter Faden fehlt, dass es nur irgendwie um Verrat geht – an der Herkunft, am Nächsten, am Nachbarschaftlichen –, muss nicht kritisch eingewendet werden: Der Abend ein sammelsurischer Reigen der real existierenden Klingeltöne in den bohemistischen Szenen unserer (hauptstädtischen) Welt. Mit anderen Worten: Auch Falk Richter arbeitet sich mit seinen Schauspieler*innen (Mehmet Ateşçi, Knut Berger, Mareike Beykirch, Daniel Lommatzsch, Orit Nahmias und Çiğdem Teke) an der Frage ab, ob die Welt noch zu retten ist. Das ist ein streckenweise ödes Geraune um die gedankenfaule Idee, dass das Hier und Jetzt, also diese Welt schlechthin, am Abgrund steht. Es fehlt an intellektuell einheizender Arbeit am Stück und an dessen Umsetzung.

Das Verblüffende ist ja, dass die Schauspieler*innen genau dies aus­strahlen: eine sehr charmant anzu­sehende Lebenslust, ein keineswegs ­depressiv gesinntes Agieren

Stattdessen: im Hintergrund das Buch eines französischen Soziologen, der momentan als identitärer Linker verbreitet, Macron sei recht eigentlich der eigentliche Le Pen. Das ist alles nicht ganz bei Trost, das ist sogar ermüdend und leider nicht empörend genug. Man wünschte den Figuren das offen ausgesprochene Bekenntnis, dass die Welt eigentlich schön ist.

Denn das Verblüffende ist ja, dass die Schauspieler*innen genau dies ausstrahlen: eine sehr charmant anzusehende Lebenslust, ein keineswegs depressiv gesinntes Agieren. Die Bühne dementiert die Spielfreude Gott sei Dank nicht sehr. Dunkel und schmutzig, das alles: wie unsere Kreise sich Prekarisierung und die Welt der Verratenen, die Proleten eben, die auf den langen Weg ins Bildungsbürgertum keine Lust hatten oder keine Zeit oder sich sonst wie nicht erreichbar zeigten, vorstellen.

Am Ende wird im Hintergrund ein Filmchen eingespielt, man sieht die Schauspieler*innen einander beschmusend in einer Liegelandschaft, ein Knäuel von Körpern mit Masken. Sie zeigen Putin und Trump – und ernten nicht Gelächter ob der Fahlheit des Witzes, sondern kicherndes Staunen aus dem Publikum: als ob mit beiden Figuren die Welt so hinlänglich dargestellt wird. Kurzum: Dieses Stück, „Verräter – Die letzten Tage“, ist ein dräuender Schwank, bestückt mit Material aus dem Arsenal links gesinnter Weltvorstellung. Ein Phantasma sammelsurischer Art, sehr schön anzusehen, weil alle sechs Schauspieler*innen so fein spielen. Sie sind die Zukunft. Sie wollen noch nichts aus ihr machen, denn sie haben nur ängstliche Ideen. Man möchte ihnen sagen: Eribon, ihr Lieben? Alles Quatsch.