Rot heißt Raubkunst

Die Bundeskunsthalle Bonn zeigt erstmals Stücke aus dem „Schwabinger Kunstfund“.
Der Schau geht es um politische Rechtfertigung. Kunst kommt auch vor

Gurlitt-Haus in Salzburg, an der Wand Claude Monets „Waterloo Bridge“, Pablo Picassos „Stillleben mit Glas und Früchten“ und Auguste Rodins „Danaide“ Foto: Nachlass Cornelius Gurlitt/Kunst- und Ausstellungshalle der Bundes­republik Deutschland

Von Johanna Schmeller

Eine junge Frau steht ­zwischen Anzugträgern, nackt in eine fremde Welt geworfen. Die Wampe eines wohlgenährten Herrn bedrängt sie von rechts, prüfend mustert ein hagerer Gentleman ihre Formen von links. Leuchtend hebt sich ihr weißes Fleisch gegen die dunklen Jacketts der rein männlichen Abendgesellschaft ab. Die Herren tragen Zylinder und Frack. Ein Dutzend Augenpaare verfolgen ihren Gang. Nur ein schmaler Pfad bleibt ihr. Die längste Wegstrecke liegt bereits hinter dem Mädchen.

Diesen Spießrutenlauf, begleitet von den Blicken wohlsituierter Großbürger, hat Edvard Munch 1895 in seinem Bild „Die Gasse“ eingefangen. Und noch heute könnte die kleine Lithografie mehr emotionale Wucht auslösen als jeder Hollywood-Hashtag. Könnte. Doch in Bonn findet sie ihren Platz in einem so gewaltigen historischen Kontext, so umzingelt – wie die Nackte selbst – von fremden Zeichnungen, so dicht gehängt, dass dafür schlicht kein Platz bleibt – nicht für Wucht, nicht für Wut. Doch dazu später.

Erstmals zeigen Bonn und Bern in einer Doppelausstellung Stücke aus dem „Schwabinger Kunstfund“ – ein weiteres Kapitel im berühmtesten Kunstkrimi der Repu­blik. „Bestandsaufnahme Gurlitt. Der NS-Kunstraub und seine Folgen“ ist die Bonner Schau überschrieben. Ini­ti­iert wurde sie nicht von der Bundeskunsthalle, sondern von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters. Grütters trat ihr Amt Ende 2013 an, also im Jahr nach der Beschlagnahmung von Kunstwerken in der Dachwohnung des Privatiers Cornelius Gurlitt in München-Schwabing. Der Umgang mit dem von einigen Medien zunächst fälschlich auf Milliardenhöhe taxierten „Dachbodenfund“, der 2013 pu­blik gemacht wurde und dem Skandalberichte und Gerichtsprozesse folgten, begleitete ihre Amtszeit ab den ersten Tagen.

Jetzt ist Zeit für eine Zwischenbestandsaufnahme. 2014 sei Grütters an die Bundeskunsthalle herangetreten mit der Anregung einer Ausstellung, erzählt Museumsdirektor Rein Wolfs, und nun „sind wir auf einem Weg, der weitergehen wird“. Im Frühjahr 2015, wenige Monate nach Grütters’ Kontaktaufnahme, wurden alle Werke aus dem Schwabinger Kunstfund von Restauratoren der Bundeskunsthalle aufgenommen, ausgemessen, fotografiert und auf ihren physischen Zustand hin untersucht. 1.566 Positionen wurden katalogisiert. Alle Werke werden seither auf Raubkunstverdacht geprüft. 735 Werke gingen in die Tiefenforschung. Für Herbst 2018 ist eine dritte Schau geplant, im Martin-Gropius-Bau in Berlin. „Bis dahin wissen wir mehr“, so Wolfs. Vorerst könne es nur darum gehen, „Geschichte auf den Tisch zu legen“.

Ampel zum Forschungsstand

Das politische Versprechen, Transparenz zu schaffen, löst die Bonner Schau dann auch ein. Während Bern sich auf die Aktion „Entartete Kunst“ der Nationalsozialisten konzentriert, stellt die Bundeskunsthalle Bonn 250 Ölgemälde, Zeichnungen, Lithografien und Plastiken aus – von Edvard Munch, Max Beckmann, Otto Dix und weiteren von den Nationalsozialisten als „entartet“ verfemten Künstlern. Neben Ölgemälden von Claude Monet umfasst die Sammlung Gurlitt auch Werke von Emil Nolde, Paul Cézanne, Wassily Kandinsky und Franz Marc.

Die Taskforce zur Klärung der Provenienz der Kunstwerke hat ein Ampelsystem eingeführt: Was für „grün“, also für unbedenklich befunden ist, wurde nach Bern geschickt. „Rot“ dagegen steht für Raubkunst. Sechs Werke wurden restituiert, zuletzt eines von Thomas Couture.

Die Bonner Stücke sind überwiegend gelb gekennzeichnet, also als weiter überprüfungsbedürftig gelistet. Die Schau soll „aufzeigen, welche kunsthistorischen Linien der Kunstfund hatte und welche Qualitäten es gab – aber dann gibt es auch die historische Linie“, so Rein Wolfs. Diese beiden Ebenen würden eng verzahnt. „Wir sehen es als historische Aufgabe, dieses Erbe aufzuarbeiten.“ Im Fokus steht Sachlichkeit.

Dies gilt auch für den Katalog: 20 internationale Kunstexperten haben darin ihren Kenntnisstand zur Provenienz der Werke zusammengefasst.

In Teilen gleicht die Schau geradezu einem Polizeieinsatz: Gehen Sie bitte weiter, Sie sehen doch, es wird alles getan

Privater Kunsthandel

Aufregung hat es in der Vergangenheit viel gegeben. 2010 gerät Cornelius Gurlitt ins Visier der Steuerfahndung. 2012 werden bei einer Durchsuchung Kunstbestände aus dem Erbe seines Vaters beschlagnahmt, die er in seiner Münchner Wohnung verwahrt. Gurlitts Vater, Hildebrand Gurlitt, ist in den zwanziger Jahren in Dresden und Zwickau Museumsdirektor, bevor er 1933 Leiter des Hamburger Kunstvereins wird.

Nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten – Gurlitt ist Enkel einer deutschen Jüdin – handelt er privat mit Kunst.

Später kooperiert er eng mit der NS-Regierung: Ab 1938 verkauft er Werke, die in Deutschland als „entartet“ gelten, im Auftrag der Nationalsozialisten ins Ausland. Für das NS-Regime erwirbt Hildebrand Gurlitt Kunst, besonders in Paris, und engagiert sich für das geplante „Führermuseum“ in Linz. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wird Hildebrand Gurlitt Direktor des Düsseldorfer Kunstvereins.

Die Schau in Bonn dürfte politischen Ansprüchen gerecht werden. Sie klärt auf und präsentiert – erfreulicherweise – einen Zwischenstand. Dies ist ihre große Leistung.

Ergreifen dürfte sie allerdings niemanden. Und dies ist ihr enormer Mangel. Moralität und monströse Ungerechtigkeit schwingen hier mit. Emotional fassen lässt sie sich kaum.

In Teilen gleicht die Schau deshalb einem Polizeieinsatz: Gehen Sie bitte weiter, sie sehen doch, es wird alles getan. Um Zuarbeit der Öffentlichkeit bei der Klärung von Provenienzfragen wird zwar gebeten – für Verstörendes oder Verwirrendes ist allerdings jetzt, zwei Monate vor Auslaufen der Projektförderung für die Taskforce, erkennbar kein Platz mehr.

Positionen statt Kunst

„Der NS-Kunstraub und seine Folgen“ ist die Bonner Schau überschrieben. Initiiert wurde sie nicht von der Bundeskunsthalle, sondern von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters

Der Besucher läuft von „Position“ zu „Position“ (wie die Kunstwerke seit ihrer Katalogisierung heißen), entlang farblich abgesetzter Wände, durch fünf historische Stationen aus dem Leben eines kunstsinnigen Kollaborateurs.

Tafeln reißen in wenigen Sätzen die Biografien von „Opfern“ an, von Kunstbesitzern, die ihre Werke in Not verschleudern mussten – kurz wie eine Aktenrandnotiz. Sollten sie als Analogie zum Stolperstein verstanden werden, dann trifft einen davon ein einziger mit mehr emotionaler Wucht als 250 Bilder in dieser Hängung.

Der innere Diskurs mit den Werken, wie er sich sonst im Schweigen mit Kunst aufbauen kann, geht dieser Schau verloren. Kreative wie Dix, Beckmann, Munch haben den Schrecken von zwei Weltkriegen eine alternative und daher umso lautere Stimme verliehen – aber die wird in der pädagogischen Aufbereitung schlicht stumm geschaltet. Die unheilbare Vergiftung, deren Zeugnis die Werke sind, vermittelt sich kaum mehr. Und wie soll man verstehen, ohne zu fühlen?

Es wird Jahrzehnte dauern, bis die Werke selbst erneut wieder sprechen – nachdem die Kontaminierung der Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen mit den Verbrechen der Nazis für das kollektive Gedächtnis korrekt erschlossen ist. Ihre eigentliche künstlerisch-visuelle Botschaft ist freilich das beste Antidot gegen die ideologische Verblendung, die ihnen und der deutschen Gesellschaft zum Schicksal wurde.

Bis 11. März 2018, Bundeskunsthalle Bonn; bis 4. März 2018, Kunstmuseum Bern, Katalog Hirmer Verlag, München