„Wir kämpften für die Freiheit. Und nicht gegen Vietnam“

Im März 1968 wurde Adam Michnik von der Uni geworfen – und verhaftet. Danach brach der Studentenprotest in Polen aus. Was war der Unterschied zwischen 68 im Westen und 68 im Osten?

1968: Er gehörte zu den Anführern des „März 1968“, wie der Protest in Polen heißt. Wurde deshalb der Uni Warschau verwiesen, verhaftet und wegen Hooliganismus zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. 1969 vorzeitig entlassen. Das Hochschulverbot wurde erst Mitte der 1970er aufgehoben. Heute: Chefredakteur und Herausgeber der Gazeta Wyborcza, der linksliberalen größten Tageszeitung Polens. Essayist und politischer Publizist, ehemaliger antikommunistischer Dissident. Einer der bedeutendsten Intellektuellen Polens (prowestlich, liberal). Er erhielt 2001 das Große Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Weitere Auszeichnungen: Robert-F.-Kennedy-Menschenrechtspreis, Erasmus-Preis, Prix de la Liberté des französischen P.E.N.-Clubs und andere. Geboren: 17. Oktober 1946 in Warschau. Glauben: Atheist, jüdischer Herkunft. 1968 in Polen: Polens KP geriet durch Studentenproteste in eine politische Krise. Er nahm die Revolte zum Anlass für die größte staatlich organisierte antisemitische Kampagne seit dem Holocaust. Tausende Juden und Intellektuelle mussten Polen verlassen. Zum taz-Gespräch traf Adam Michnik unsere Polen-Korrespondentin Gabriele Lesser in in seinem Büro auf der Chefetage der Gazeta Wyborcza. Michnik, sagt Gabriele Lesser, sei „gut gelaunt, witzig und charmant“ gewesen.

INTERVIEW GABRIELE LESSER

taz: Herr Michnik, haben Sie 1968 je mit Steinen auf Milizionäre geworfen?

Adam Michnik: Mit Steinen?

Oder Polizeiautos angezündet?

Nein, ich habe eine Obsession gegen Gewalt. Ich komme ja aus einem sehr linken, sogar kommunistischen Milieu. Da lag schon früh die Frage nach dem Stalin-Terror und seinen Ursachen auf der Hand. Wer mit Gewalt eine Bastille stürmt, hat oft kein anderes Ziel, als neue Gefängnisse zu bauen. Davor hatte ich immer Angst und also nie mit Steinen geworfen oder etwas angezündet.

Aber war das 1968 ein Thema in Polen? Gewalt im politischen Kampf einzusetzen – so wie in Westeuropa?

Ja. Wir haben das durchdiskutiert. Als ich 1969 aus dem Gefängnis kam, wollte mich ein Bekannter davon überzeugen, dass unsere Studentenbewegung nur deshalb gescheitert sei, weil wir keine Polizeiautos angezündet hätten. Aber ich war immer dagegen. Keine gewalttätige Bewegung endet friedliebend und tolerant.

Mahatma Gandhi und Martin Luther King haben damals Gewaltfreiheit gepredigt. Waren das auch in Polen Vorbilder?

Für mich persönlich waren Gandhi und Martin Luther King enorm wichtig. Vor allem, weil sie mit ihrer Methode erfolgreich waren. Auf der anderen Seite wurde unsere Tugend eher aus der Not geboren. Wenn klar ist, dass man einen bewaffneten Kampf nicht gewinnen kann, ist es einfach, auf Gewalt zu verzichten.

Was bekamen Sie vom Vietnamkrieg mit?

Die offizielle Presse Volkspolens war sehr antiamerikanisch. Dennoch hatten wir den Eindruck, dass die Berichte glaubwürdig waren. Leute wie ich sympathisierten stark mit der Bewegung gegen den Vietnamkrieg.

Auch mit Flowerpower: Make Love not War?

Sicher. Aber das war es nicht nur. Es war vor allem der SDS, die amerikanische Studentenbewegung für Demokratie, die mir imponierte. Mich persönlich hat das Ausprobieren neuer Lebensformen nicht übermäßig interessiert. Ich war jung und links. Ich wollte das System in Polen verändern. So wie viele meiner Kommilitonen in Warschau auch. Das war eine linke Opposition zum herrschenden Regime in Polen.

Und die Diktatur Reza Pahlewis in Persien? In Deutschland wurde bei einer Demonstration gegen Pahlewi der Student Benno Ohnesorg erschossen.

Für die Studentenbewegung in Deutschland gab es in Polen ebenfalls eine gewisse Sympathie. Aber für uns war das eher schwierig: Teheran, Reza Pahlewi – niemand wusste, wer das überhaupt war. Polen war ein geschlossenes Land, ziemlich isoliert. Deutschland hingegen war ein allgegenwärtiges Schreckgespenst der Partei. Nach dem Motto: Wenn ihr euch hier aufbäumt, kommen die Deutschen und nehmen uns Breslau und Stettin weg. Ich war damals 22 Jahre alt und wusste nicht allzu viel über Deutschland. Aber mir war schon klar, dass diese Studentenbewegung nicht revanchistisch war. Daher die Sympathie.

In Polen protestierten die Studenten 68 gegen die Absetzung eines Theaterstücks. Was war daran revolutionär?

Adam Mickiewicz ist ein Sacrum! Unseren großen Freiheitsdichter rührt man nicht an! Das Ganze eskalierte nur deshalb, weil die Partei die Warschauer Studenten mit Gewalt auseinandetrieb, weil sie mit Repressionen antwortete. Daraufhin geriet die ganze studentische Welt Polens in Aufruhr. Das war damals der Höhepunkt der Zensur und des Protests gegen sie.

Handelte es sich bei der Absetzung des Theaterstücks nicht um eine Provokation des Geheimdienstes?

Eine Weile glaubten wir das alle. Aber die Parteikommunisten waren einfach dumm. Sie konnten sich nach zwölf Jahren gesellschaftlicher Ruhe nicht vorstellen, dass die Absetzung der „Totenfeier“ einen landesweiten Protest hervorrufen könnte. Sie waren mit ihrem innerparteilichen Streit beschäftigt, fürchteten Moskau und ließen ihre Milizionäre draufschlagen.

Der Protest brach auch Ihretwegen aus. Was war passiert?

Anfang März 1968 ließ mich der Bildungsminister gegen jedes Recht von der Uni feuern. Ohne jede Begründung! Aus und vorbei mit dem Studium.

Wie? Ohne jeden Grund?

Nun ja. Ich hatte schon vorher Probleme. Die Opposition an der Uni gab es damals bereits seit einigen Jahren. Als die Partei 1965 die Uni-Assistenten Jacek Kuron und Karol Modzelewski verhaften ließ, war dies der Wendepunkt. Auch ich landete 1965 hinter Gittern. Aber nur für kurze Zeit. Ich wurde schnell wieder freigelassen. Wir begannen uns zu organisieren. Als die „Totenfeier“ abgesetzt wurde, demonstrierten wir gegen die Zensur. Ich flog von der Uni und wurde wieder verhaftet.

Warum Sie?

Henryk Szlajfer und ich hatten im Januar dem Le-Monde-Korrespondenten in Warschau von den Studentenprotesten erzählt und vom Parteiaustritt der Professoren Brus und Bauman. Das waren damals wichtige Leute an der Uni. Daraufhin erschien in Le Monde ein Artikel, der uns im März zum Vorwurf gemacht wurde. Wir seien Querulanten, würden ständig die Hochschulgesetze brechen und seien daher von der Uni zu werfen. Dabei hatte der Minister gar keine Hoheitsgewalt an den Universitäten! Er konnte nicht einfach Studenten von der Liste streichen.

Hatten Sie Angst vor der Zukunft?

Man braucht Vorstellungskraft, um sich fürchten zu können. Und um Vorstellungskraft entwickeln zu können, muss man intelligent sein.

Sie lachen?

Ich fürchtete mich überhaupt nicht.

Wie ging es denn weiter?

Ich saß anderthalb Jahre im Gefängnis. Dann musste ich zwei Jahre als Schweißer in der Warschauer Rosa-Luxemburg-Fabrik arbeiten. Diese Glühbirnen wollten einfach nicht brennen, damals. Ich war ein unglaublich schlechter Schweißer. Die Partei wollte damals, dass ich Polen verlasse, dass ich emigriere. Aber ich wollte nicht. Es dauerte noch ein Jahr. Erst dann erlaubten sie mir, als Externer an der Uni Posen mein Studium zu beenden.

Nach der Studentenrevolte inszenierte die polnische KP im März 1968 eine antisemitische Hetzkampagne. Über 15.000 Juden und Intellektuelle mussten Polen verlassen. Woher kam dieser Antisemitismus?

Der 68er-Antisemitismus in Polen erfüllte zwei Aufgaben. Zum einen diente er der Parteisäuberung. Zum anderen hoffte der nationalistische Flügel in der Partei auf einen Popularitätszugewinn im traditionell antisemitisch eingestellten Lager der nationalen Rechten. Auch der Sechs-Tage-Krieg Israels spielte ein Rolle. Offiziell unterstützte Polen die proarabische Linie Moskaus. Gegner im parteiinternen Machtkampf konnten mit der antiisraelischen Rhetorik leicht zur Strecke gebracht werden.

Spielte der Prager Frühling auch eine Rolle?

Durchaus! Die polnischen Kommunisten hatten Angst, dass das Tauwetter bei den Nachbarn wie eine Welle in den eigenen Apparat schwappen könnte – mit völlig unabsehbaren Folgen. Also schlugen sie mit voller Kraft auf die demokratisch-liberale Intelligenz ein. Und sie haben gewonnen. Damals. Aber es bleibt ein Schandfleck in der polnischen Geschichte. Niemals zuvor und niemals danach hatte sich eine kommunistische Partei den Antisemitismus auf ihre Fahnen geschrieben.

Nach dem März 1968 emigrierten viele Juden aus Polen, gezwungenermaßen, aber auch freiwillig. Haben Sie nie daran gedacht, zu emigrieren?

Als sie mich im Gefängnis fragten: „Emigrieren Sie nach Israel?“, habe ich geantwortet: „Ja, einen Tag nachdem Sie nach Moskau emigriert sind.“ Das ist doch eine Frechheit! Wie kann man einen Menschen so etwas fragen? Mein Platz ist hier. Das ist mein Land. Mein Vaterland.

Man konnte für Polen auch viel vom Ausland aus tun, oder nicht?

Aber das hat nichts mit der ethnischen Herkunft zu tun. Seit Hitler meine Eltern und Großeltern, meine ganze Familie als Juden qualifizierte, die sich für den Ofen eignen, gebe ich niemandem das Recht, mich so zu qualifizieren. Das ist allein meine Sache. General Moczar konnte ja nach Moskau emigrieren, wenn er wollte. Sein heiliges Recht. Sollte er doch gehen.

„Mein Platz ist hier. Das ist mein Land. Mein Vaterland“

Herr Michnik, im April 1968 schoss ein Arbeiter in Westberlin auf den APO-Anführer Rudi Dutschke. Im Mai prügelten französische Polizisten so auf die Studenten ein, dass es rund 1.000 Verletzte und einige Tote gab. Sie sagten aber einmal, dass die Studentenrevolte im Westen nichts anderes gewesen sei als ein „Generationenerlebnis“. Sehen Sie das heute noch so?

Ja, für meine Altersgenossen im Westen war der Hauptbezugspunkt der Vietnamkrieg. Für uns war es die Tschechoslowakei. Das ist ein prinzipieller Unterschied. Wir haben für die Freiheit gekämpft. Die Studenten im Westen hingegen kämpften gegen den Kapitalismus. Wir waren damals in Polen keineswegs für den Kapitalismus. Unsere Parolen waren ebenfalls links, aber wir kämpften vor allem für die Freiheit. Im Westen hingegen war die Ikone Che Guevara. Dort gab es Maoisten, Trotzkisten. Die westdeutschen Studenten kämpften gegen Reza Pahlewi, aber nicht gegen Walter Ulbricht. Die DDR-Diktatur war kein Feind. Der Unterschied war also ein prinzipieller. Für uns waren die Hauptfeinde die in Warschau und Moskau regierenden Kommunisten, nicht aber die USA und deren Krieg gegen Vietnam.

Für Rudi Dutschke gab es 1968 noch keinen sozialistischen Staat. Für ihn waren weder die UdSSR noch die Volksrepublik Polen, die ČSSR oder die DDR sozialistisch. Freiheit und Sozialismus waren für ihn untrennbar.

Mir scheint, dass Rudi klüger war als die gesamte Bewegung. Denn Rudi wusste, ebenso wie Wolf Biermann, was für ein System die DDR war. Aber die Masse der Studenten, die mit den Porträts von Mao Tse-tung, Trotzki oder Che Guevara demonstrierte, hatte davon keinen blassen Schimmer.

Kannten Sie Dutschke?

Ja, Rudi habe ich 1976 in Rom kennengelernt. Dann war ich 1977 in Frankfurt. Dort fand ein großes Treffen zur Unterstützung der Charta 77 in der ČSSR und des KOR, des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter, in Polen statt. Ich bin dort aufgetreten und habe auch Wolf Biermann kennengelernt. Mit Rudi sind wir Abendessen gegangen und auf einen Wodka. Ich mochte ihn sehr gerne. Rudi war klüger als die anderen. Genauso wie Daniel Cohn-Bendit. Sie standen niemals auf der Seite der Sowjets.

Eines Ihrer Bücher trägt den Titel „Wut und Scham“. Sie beschreiben darin den langen Kampf Polens um die Freiheit. Denken Sie nicht, dass die protestierenden Studenten im Westen auch Wut und Scham fühlten?

Es gab sicher auch Ähnlichkeiten zwischen unseren Studentenrevolten. Mental und emotional. Nur führte der Protest in Polen niemals zur Barbarei, zur Vernichtung von Bibliotheken wie in Berkeley oder zum Terrorismus wie in Deutschland. Aber ich habe das damals noch nicht so verstanden. Mich schmerzte vor allem die fehlende Sensibilität für die Prozesse der Demokratisierung in Mittel- und Osteuropa. Nicht einmal nach der Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei gab es im Westen eine große antisowjetische Demonstration. Das war für mich unglaublich bitter.

Haben Sie darüber auch mit Dutschke gesprochen?

Das war sogar ein wichtiges Thema. „Du hast recht“, sagte er mir. „Wir wollen das ja auch ändern. Deshalb unterstützen wir jetzt auch die Charta 77.“

Im Westen dauern die Folgen von 1968 bis heute an. Was für bleibende Folgen hat die 68er-Revolte in Polen?

Einerseits haben wir 1968 verloren. Aber zweieinhalb Jahre später fiel das Regime Gemulkas durch die Streiks der polnischen Arbeiter an der Ostseeküste. Sechs Jahre später entstand das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter. Wieder vier Jahre später enstand die Gewerkschaft Solidarität. Und neun Jahre später hatten wir ein freies Polen. In diesem Sinne fällt die Bilanz positiv aus.

Andererseits sind der Antisemitismus und der Hang zum Autoritären immer noch sehr lebendig. Der Antisemitismus wird heute nicht mehr von Parteikommunisten verbreitet, sondern von Geistlichen. In diesem Sinne fällt die Bilanz negativ aus?

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass die einmal erkämpfte Demokratie uns nicht auf ewig gegeben ist. Wir müssen sie jeden Tag aufs Neue verteidigen.