Klassenzimmer mit Aussicht

In Berlin präsentierten gestern Schülerinnen und Schüler ihren Traum vom Lernen. Freundlicher sollen die Schulgebäude werden, offener der Unterricht

von CHRISTIAN FÜLLER

Sie nannten es: die Abrechnung. Zwölf Kollegiaten des Theodor-Heuss-Gymnasiums in Ludwigshafen zogen eine Bilanz ihrer Schullaufbahn. Das schriftliche Abitur hinter sich. Bis zur letzten, mündlichen Prüfung noch drei Monate Zeit. Also machten sie einfach mal alles anders.

Eine „Lernwerkstatt“ ersetzte jetzt die Schule. Es gab keine Klingelzeichen nach 45 Minuten mehr. Der Lehrpan war außer Kraft gesetzt, Unterricht fand nicht mehr zwingend im Klassenzimmer statt. In einer „Fantasiephase“ stellten sie sich die Schüler dann die Frage: „Wie soll unsere Traumschule aussehen?“

Die Ludwigshafener Traumschule war gestern nur einer von Dutzenden Entwürfen einer ganz neuen Schule, die beim Wettbewerb „Klasse Zukunft“ in der Berliner Akademie der Wissenschaften vorgestellt wurden. Das Besondere: Zum ersten Mal seit der Pisa-Studie wurden diejenigen nach ihrer idealen Bildungseinrichtung gefragt, um die es beim Schulemachen geht: die Schüler.

700 Schüler bundesweit haben sich beteiligt. Nicht viel, möchte man meinen. Aber die Resultate des Wettbewerbs, den der Verein „Schulen ans Netz“ ausgeschrieben hatte, bestätigen eine kuriose Erfahrung der vergangenen eineinhalb Jahre seit der Veröffentlichung der großen OECD-Schulstudie.

Während oben bei den KultusministerInnen und Lehrerfunktionären unglaublich viel gejammert und geklagt wird, wissen die Schüler ziemlich genau, was sie wollen. Einen offeneren Unterricht ohne frontale Belehrung. Lehrer, die sie ernst nehmen – und sie nicht jeden Tag aufs Neue mit dem Wissen aus dicken Lehrplänen voll stopfen wollen. Und, endlich, dringend, schönere Schulen und lernfreundliche Klassenzimmer.

„Wie die Klassenräume aussehen, finde ich überhaupt nicht gut“, empörte sich gestern eine der Gewinnerinnen des Wettbewerbs. „Es gehört sich einfach nicht, dass ein Mitschüler spricht, und ich habe den Rücken vor der Nase. Das ist unmöglich.“ Und doch ist diese lähmende Sitzordnung in ganz vielen Lehranstalten schlechte Praxis. Seit hundert Jahren. Dabei könnten Schulen ganz anders aussehen.

Die neunte Klasse des Düsseldorfer Lessing-Gymnasiums zum Beispiel hat eine futuristische sternförmige Schule entworfen. „Unser idealer Klassenraum“, berichten Nadine und Katharina, „hat runde Räume und oben eine Glaskuppel, damit mehr Licht hereinkommt und Kreativität möglich ist.“

Stephan Kroppenstedts und Dennis Dierschkes neue Schule ist eine architektonische Vision, die wohl niemals Wirklichkeit wird. Die beiden 17-Jährigen vom Bielefelder Carl-Severing-Berufskolleg aber zeigen zugleich, auf welch hohem Niveau die Schüler bei dem Preis „Klasse Zukunft“ arbeiteten: Ihr Gebäude solle als Symbol gelesen werden, bat Stephan Kroppenstedt. Für mehr Naturnähe – „weil wir nicht bloß in graue Städte gucken wollen“. Und für Transparenz – „denn das Bildungssystem in Deutschland mit seinen vielen verschiedenen Schulformen ist überhaupt nicht transparent“.

Den Ludwigshafener Kollegiaten war eine grundlegende Reform des Unterrichts wichtiger. Dass die Leiterin Monika Kleinschnitger ihren Leistungskurs Sozialkunde an der Heuss-Schule dabei völlig auf den Kopf stellte, hat die Schüler begeistert. „Ich habe in dieser Zeit mehr gelernt als im ganzen Rest“, sagt die Kollegiatin Silvia Alexandrova. Das Ergebnis ihres Träumens und freien Lernens in der Lernwerkstatt findet die 19-Jährige, die das Abi inzwischen in der Tasche hat, gar nicht so wichtig. „Es machte einfach Sinn“, meint Silvia, „weil wir endlich mal selber etwas gemacht haben.“

Ihrem Mitschüler Matthias Platho war die Offenheit wichtig. „Man konnte sich einfach irgendwo hinchillen“, brummt er, „wir haben Kaffee getrunken und gemeinsam gekocht. Und trotzdem hatten wir nach jeder Lern- und Denkeinheit ein vorzeigbares Ergebnis.“ Denn Frau Kleinschnitger, die Kursleiterin, legte Wert auf die verständliche Präsentation aller Überlegungen.

Diese Lockerheit in der Form, die verbunden wird mit einer produktorientierten Strenge, thematisiert eines der Grundprobleme. Im deutschen Unterricht – jedenfalls am Gymnasium – wird noch heute, obwohl der Rohrstock längst unbenutzt bleibt, Wert auf eine eher strenge Form des Unterrichtsgesprächs gelegt. Dagegen bleibt das Erstellen von Produkten oft auf Klausuren und Noten beschränkt.

Die Ludwigshafener nun haben, selbstverständlich nur mit Erlaubnis ihres Rektors, den Spieß umgedreht. Ihre Unterrichtsformen sind offen für Gruppenarbeit, Unterricht vor Ort und Betriebspraktika. Dafür wird dann sogar der kleine linke Aufrührer Matthias Platho konsequent und hart, wenn es ums Ergebnis geht: Er will „ständige Motivation der Schüler – durch Leistungsnachweise“.

Beim gestrigen Wettbewerb „Klasse Zukunft“ standen aber die Lehrer im Mittelpunkt. Ihr Lehrkonzept, mit detaillierten Curricula bewaffnet jede Schulstunde dominieren zu wollen, wurde einhellig abgelehnt. „Wer mit einem fertigen Plan ins Klassenzimmer kommt, der kriegt immer ein Problem“, sagt Sebastian Plötzgen, der eine Art Diplomarbeit als Wettbewerbsbeitrag vorlegte. Sein Vorschlag lautete: Lehrpläne abschaffen! Da nickte die Runde der Gewinner. Und Silvia Alexandrova aus Ludwigshafen sagte: „Keine Sorge, mit dem Chaos, das dabei zunächst entsteht, kommen wir besser zurecht als die Lehrer.“