Der Esel Ferdinand

aus Kaufbeuren KIRSTEN KÜPPERS

Hermann Götzfried ist ein Mann, der etwas Besonderes hat. Alle in Kaufbeuren wissen davon. Die Einheimischen packen das Spezielle in Witze. Wenn Hermann Götzfried ins Wirtshaus geht, fragen sie zum Beispiel: „Wie geht’s deinem Esel?“ und nicht: „Wie geht’s deiner Frau?“, dann lachen die Männer, stoßen sich und schauen ins Bier. Diejenigen, die Kinder haben in Kaufbeuren, schicken sie bei Götzfried zum Gucken vorbei. Auch die Ausflügler am Straßenrand wissen Bescheid. „Der vorletzte Hof oben am Berg, da wohnt der Esel“, sagen sie und wandern los. In diesem ereignisarmen Stück Allgäu wird einer wie Götzfried schnell zur Attraktion.

Der Kaufbeurener Hermann Götzfried ist 35 Jahre alt und hat einen Esel im Stall stehen. Nicht, dass er ein solches Tier gebraucht hätte. Er ist Forstunternehmer von Beruf. Für die Wälder der Gegend braucht er eine Zugmaschine, eine Doppelseilwinde und einen Kran, einen Esel braucht er nicht. Nein, wenn Hermann Götzfried in seiner Wohnstube auf der Couch sitzt und berichten soll, wie es war mit dem Esel und wie es gekommen ist, dass Kaufbeuren im Allgäu jetzt ein Weihnachtsspektakel hat wie kein anderer Ort hier im Land, woran sein Esel nicht ganz unbeteiligt ist – wenn er also erzählen soll, dann legt der große Mann die kräftigen Hände ineinander, guckt auf die Birkenstock-Sandalen an seinen Füßen, guckt auf die Jeans, hustet kurz und weiß auch nicht so recht. „Der Allgäuer an sich ist ein eher wortkarger Mensch“, wird seine Frau später sagen.

Echte Allgäuer sind auch stur. An ihren Überzeugungen halten sie fest. Irgendwann in seinem Leben ist Götzfried zu dem Schluss gekommen: „Esel sind geniale Tiere.“ Er wollte einfach einen haben. Einmal hatte er auch im Fernsehen im dritten Programm ein Eselrennen gesehen. „Das war lustig“, sagt er. Vielleicht war das ja der Grund. An einem Samstagmorgen vor acht Jahren jedenfalls hat sich Hermann Götzfried in seinen Landrover gesetzt und ist die 88 Kilometer in die Großstadt gefahren, nach München. Den Kaufbeurener Tierarzt hat er mitgenommen als Experten. Zum Rossmarkt auf dem Schlachthofgelände sind sie gefahren. Tausende Rinder, Schweine und Pferde werden dort verkauft, auch ein paar Esel waren an jenem Samstag dabei. Aber keiner hat ihnen gefallen. Die beiden Männer sind ohne Esel nach Hause gekommen.

Lamas und Dromedare

Wochen später hat sich Hermann Götzfried wieder aufgemacht. Wegen einer Annonce in der Allgäuer Zeitung. Der Inserent entpuppte sich als verrückter Typ, der oben zwischen den Bergen für den deutschen Zoll eine Quarantänestation betreibt. Auf voralpenländischen Wiesen weiden da Lamas, Kamele und Dromedare, auch ein grauer Esel war damals darunter: Der muss es sein, dachte sich Götzfried, als er ihn sah. Aus welchem Land das Tier kam und warum es abzugeben war, konnte der Kaufbeurener nicht in Erfahrung bringen. Wie auch immer: „Gesund war er, geimpft war er.“ Eine Woche später holte er den Esel mit dem Anhänger ab.

Das Krippenspiel im Kaufbeurener Wald gab es schon vorher. Und vielleicht legt man zu viel Bedeutung in wunderliche Zufälle, wenn man sagt, dass der Esel, den Hermann Götzfrieds Kollegen von der Freiwilligen Feuerwehr in einer betrunkenen Nacht bei ihm daheim auf den Namen Ferdinand Mozart getauft haben, das Ganze erst richtig perfekt gemacht hat. Aber es ist schon bemerkenswert, dass der bayerische Weiler, in dem Hermann Götzfried damals den Esel abgeholt hat, ausgerechnet Bethlehem heißt. Zudem hat der Esel Ferdinand auf dem Rückenfell ein dunkles Kreuzmal, was daher rührt, dass der liebe Herr Jesus auf genau einem solchen Esel geritten ist, so sagen es zumindest die Leute in Kaufbeuren.

Das Krippenspiel war 1991 der Einfall vom alten Bauern Götzfried, dem Vater. „Und wenn in Kaufbeuren eine Idee ansteht, dann zieht man das halt durch“, erklärt sein Sohn. Gerade bei den Männern von der Freiwilligen Feuerwehr, wo sie alle Mitglied sind. „Von jeder Handwerksgruppe ist einer dabei, der wo irgendwas kann.“ Und so fing es an. Abends im Wirtshaus beim Bier hat einer auf ein Blatt Papier aufgemalt, wie ein echter Stall für das Jesuskind aussehen müsste. Die anderen haben am nächsten Morgen angefangen, die Skizze in der stillgelegten Kiesgrube oben im Wald nachzubauen. Drei Tage später ist der Unterstand fertig gewesen, und es konnte losgehen mit Weihnachten.

Seither hat Kaufbeuren jedes Jahr vor Heiligabend zwei Tage lang eine so genannte „lebende Krippe“, und um zu erklären, was das genau heißt, muss Hermann Götzfried sich kurz aus dem Sofa stemmen und vor der Wohnzimmertür die lärmenden Kinder zusammenbrüllen, damit endlich eine Ruhe ist für das Wichtige, um das es hier geht. Es handelt sich nämlich, erklärt der Allgäuer, um einen „Ort der Besinnung“, der jedes Jahr im Wald entsteht. Als er wieder sitzt, kommt das Reden doch über ihn.

Stockfinster und kalt hängt der Winter zwischen den Bäumen, so muss man sich Weihnachten im Kaufbeurener Forst nach Götzfrieds Schilderung vorstellen. Die Menschen gehen schweigend den Waldweg entlang, manche halten Fackeln in den Händen, viele sind in Gruppen unterwegs. Die stumme Prozession durch Frost und Dunkelheit führt auf eine Lichtung. Neben einem Feuer warten da Hirten, gekleidet in Lodenhüte und Felljacken, eine Schafherde lagert um sie herum. Die Hirten gucken nicht in die Glut, sondern richten den Blick geradeaus, wo sich ein friedliches Bild auftut: In einem Stall neben Ochs und Esel stehen Maria und Josef, das Christuskind im Arm. Sie stehen und schweigen und lächeln. Es ist wie eine Erscheinung.

„Kein Rummel“, sagt Hermann Götzfried knapp. Er neigt den schweren Körper nach vorn, ruht ganz in einer stolzen Zufriedenheit jetzt. Es mag daran liegen, dass die Menschen müde geworden sind von Weihnachten, genug haben von der poppigen Weihnachtsmusik, die seit Herbst in den Radios läuft, dass sie die Geschenkeschleifen in den Kaufhäusern und die Lebkuchenpakete im Supermarkt nicht mehr sehen können und deswegen ergriffen sind von einer einfachen, stillen Inszenierung im Wald. Hermann Götzfried kann es nicht sagen. Er weiß nur, dass er seinen Esel zur Verfügung stellt und dass das Publikum immer mehr wird jedes Jahr. „Sogar aus München kommen die Leut’!“

Die Besucher des Krippenspiels machen nichts, sie stehen einfach nur da. Eine große Eintracht ist um sie herum. Sie sehen nicht, dass die Darsteller von Maria und Josef stündlich wechseln müssen, wegen der Kälte. Es ist egal, dass einer vom Handballverein mitspielt, einer von der Kirche und welche von der Feuerwehr. Die Menschen wollen nicht merken, dass der Ochse, der neben dem Esel steht, eigentlich eine Kuh ist, weil der echte Ochse, den die Kaufbeurener zweimal von einem Bauern aus der Nachbargemeinde geliehen hatten, jedes Mal durchgegangen ist und sich die Kuh als geduldiger erwiesen hat.

Die Leute vergessen zwischen den Bäumen, dass der Stall der Heiligen Familie nur eine Holzhütte in einer alten Kiesgrube ist und dass sie ihre Autos gerade einmal 600 Meter davor im Industriegebiet am Waldrand abgestellt haben. Es macht auch nichts, dass das Jesuskind nur eine Puppe ist, solange ein echter Esel mit einem dunklen Kreuz auf dem Rücken danebensteht. „Im letzten Jahr waren 25.000 Besucher da“, sagt Hermann Götzfried.

Für eine strukturschwache Region im Ostallgäu, wo es sonst für Tourismus kaum reicht, ist das eine Sensation. Und was immer die Männer von der Freiwilligen Feuerwehr Kaufbeuren vorhatten, als sie im Jahr 1991 anfingen, im Wald Bretter zusammenzunageln – mit einem solchen Ansturm hätte keiner von ihnen gerechnet.

Würstchenbude und Wahlsieg

Die Folge ist fortschreitende Professionalisierung. Vor dem Wald gibt es jetzt eine Bude mit Würstchenverkauf und Punsch. Im letzten Jahr haben die Männer von Götzfrieds Haus ein Kabel gespannt zur Lichtung und mit einer Webcam eine Liveübertragung von der Krippe im Internet geschaltet. Und weil die ganze Sache so gut läuft, haben sich die Männer und Frauen, die beim Krippenspiel mitmachen, inzwischen auch als politische Bewegung zusammengetan. „Kaufbeurer Initiative“ nennen sie sich. Die Liste hat bei den letzten Wahlen im März sechs Sitze im Stadtrat errungen. Es kann sein, dass den Kaufbeurenern das mit der Krippe ein bisschen zu Kopf gestiegen ist.

„Zu viel Geschrei“, meint Hermann Götzfried. Mehr fällt ihm dazu nicht ein. Er hält sich raus aus der Politik, gegen jede Erschütterung mit Allgäuer Gleichmut gepolstert. Und an die Nachbargemeinde, die den Erfolg der Kaufbeurener Krippe jetzt mit Passionsspielen an Ostern nachmachen will, leiht er seinen Esel auch nicht her. Nein, nur an Weihnachten stellt er sein Tier in den Wald, hilft die Schafe mit dem Transporter hinzufahren – das ist alles. Und wenn wirklich einmal einer belegen will, dass ein Mensch und sein Vieh sich mit der Zeit im Charakter zu ähneln beginnen, findet er wohl in Hermann Götzfried und seinem Esel Ferdinand Mozart ein gutes Beispiel. Ohne sie wäre das Kaufbeurener Krippenspiel nichts, trotzdem halten sich beide im Hintergrund.

Das östliche Allgäu ist eh eine ruhige Gegend, Kaufbeuren kein Ort, wo einer gegen das Schicksal rebelliert. Aber wenn wieder einer im Wirtshaus meint: „Wie geht’s deinem Esel?“, antwortet Hermann Götzfried jetzt immer: „Der hat heut’ schon nach dir gefragt.“