Wenn die Dienstpflicht ganz laut ruft

Weil er ein 18-jähriges Mädchen vergewaltigte und erwürgte, steht Juri Budanow vor Gericht – noch. Der einzige wegen Kriegsverbrechen in Tschetschenien angeklagte russische Offizier könnte mit Verfahrenstricks einem Urteil entgehen

von BARBARA KERNECK

Der bisher einzige Prozess wegen eines von einem russischen Offizier in Tschetschenien begangenen Kriegsverbrechens ist diese Woche in ein entscheidendes Stadium getreten. Hauptmann Juri Budanow (33) wird der Entführung und Ermordung eines tschetschenischen Mädchens angeklagt und steht bereits seit zwei Jahren vor dem nordkaukasischen Militärgericht in Rostow am Don. In diesem Zeitraum wurden über ihn fünf psychiatrische Gutachten eingeholt. Das letzte, am Montag präsentiert, kommt zu dem Schluss, Budanow sei während der Tat und schon Jahre vorher unzurechnungsfähig gewesen. Er bedürfe der Zwangseinweisung in eine psychiatrische Heilanstalt. Falls sich das Gericht dem anschließt, hat es die Möglichkeit, sich eines Schuldurteils zu enthalten.

Budanow hatte in der Nacht vom 26. auf den 27. März 2000 anlässlich des zweiten Geburtstags seiner Tochter mit Kameraden gezecht. Betrunken bestieg er mit ihnen einen Panzer und fuhr ins tschetschenische Dorf Tangi Tschu, zum Haus der 18-jährigen Elsa (tschetschenischer Rufname: Heda) Kungajewa. Er zerrte die junge Frau aus dem Kreis ihrer Familie, ließ sie fest in eine Decke wickeln und verbrachte sie in sein Quartier. Dort blieb Budanow über eine Stunde mit Elsa allein. Danach fanden seine Untergebenen Elsa nackt und erwürgt. Unter Budanows Anleitung vergruben sie ihren Leichnam.

Bis zu diesem Punkt hat Budanow alles Geschehene gestanden. Nicht auf seine Kappe nehmen will er aber die brutale Vergewaltigung Elsas, die gerichtsmedizinisch nachgewiesen wurde. In einem ersten Gutachten hieß es, das Mädchen sei etwa eine Stunde vor Eintritt ihres Tode vergewaltigt worden, in einem zweiten: es sei nicht sicher, ob vor- oder hinterher. Beide Expertisen stammen von dem selben Pathologen. Den lud das Gericht nie vor. Obgleich der Tatbestand der Vergewaltigung unangetastet blieb, nutzte es den Widerspruch über ihren Zeitpunkt, um diesen Anklagepunkt fallen zu lassen.

Was nun den Mord an Elsa Kungajewa betrifft, so behauptete Budanow erst, das Mädchen sei eine Scharfschützin gewesen und er habe sie während eines Verhörs im Affekt erwürgt. Später bezeichnete er als „Scharfschützin“ nicht Elsa selbst, sondern deren Mutter. Die junge habe Frau ihn „wütend gemacht“, weil sie sich weigerte, deren Aufenthaltsort zu nennen. Nicht vor Gericht gehört wurden Kameraden Budanows und Freundinnen Elsas, die der Presse erzählten, Budanow habe der hübschen jungen Frau schon länger nachgestellt. Das für diese Aufgabe zuständige Armeekommando erklärte, in Tangi Tschu habe man zu jener Zeit keine ScharfschützInnen gesucht.

Von den vielen Gutachten, die Budanows Zurechnungsfähigkeit zur Tatzeit teils bejahten, teils verneinten, wurde eines vom Gericht gleich ungeöffnet zurückgesandt. Es war im Herbst in Rostow eingetroffen, kurz vor dem Terroristenüberfall auf das Moskauer Musical-Theater. Damals, so meinen politische Beobachter, habe man „von oben“ ein Interesse an Budanows Verurteilung gehabt. Dies habe sich aber nach dem Moskauer Geiseldrama geändert, als sich die öffentliche Meinung in Russland gegen die Tschetschenen wandte. Schon längst ist Budanow zum Helden ultrapatriotischer Vereinigungen avanciert. Deren Mitglieder demonstrieren zu jeder Verhandlung und fordern „Freiheit für einen russischen Offizier“.

Sollte Budanow der Verantwortung für sein Verbrechen enthoben werden, wird er nicht allzu lange in der Heilanstalt verbleiben. General Waleri Manilow, stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungskomitees des Föderationsrates und noch vor kurzem stellvertretender Generalstabschef, äußerte am Dienstag die Hoffnung auf eine schnelle Rehabilitierung und Wiedereingliederung Budanows in die Armee. Der Hauptmann sei einfach „während der Ausübung seiner militärischen Dienstpflicht ins Unglück geraten“.