Aus für anonyme Geburten?

Vor dem Menschenrechtsgerichtshof verlangt eine Französin Auskunft über ihre Eltern

STRASSBURG taz ■ „Eine anonyme Geburt ist der symbolische Tod des Kindes“, glaubt die Französin Pascale Odievre. Die 37-Jährige klagt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um zu erfahren, wer ihre Eltern und Geschwister sind. Der gestern in Straßburg verhandelte Fall hat europaweite Bedeutung.

Die Möglichkeit, anonym zu gebären, hat in Frankreich eine lange Tradition. Sie soll Kindstötungen verhindern und außerdem sicherstellen, dass auch Frauen in Not bei der Geburt eine gute medizinische Betreuung erhalten. Etwa 400.000 Menschen kamen in Frankreich so auf die Welt.

Die Zahlen gehen allerdings deutlich zurück. Während es in den 50er-Jahren jährlich noch rund 10.000 anonyme Geburten gab, sind es heute, danke Pille und legalisierter Abtreibung, lediglich rund 600. Inzwischen protestieren aber auch viele anonym geborene Kinder gegen die Regelung, weil sie nichts über ihre Eltern erfahren können.

Pascale Odievre berief sich in Straßburg auf die Europäische Menschenrechtskonvention, die auch das Familienleben schützt. Sie weiß, dass die französischen Behörden in einer „gelben Akte“ Informationen nicht nur über ihre Mutter, sondern auch über ihren Vater und drei Brüder verwahren. Die Namen darf sie aber nicht erfahren, weil die Mutter damit nicht einverstanden ist. „Diese Rechtslage greift völlig unverhältnismäßig in die Rechte meiner Mandantin ein, sie muss geändert werden“, betonte Didier Mendelsohn, ihr Anwalt.

Der französische Regierungsvertreter, François Alabrune, forderte die Richter dagegen auf, den nationalen Parlamenten in dieser „sensiblen Frage“ Spielraum zu lassen. Immerhin sei das einschlägige französische Gesetz bereits im Januar dieses Jahres reformiert worden. Anonym gebärende Mütter werden nun gebeten, Informationen in einem verschlossenen Umschlag zu hinterlegen, den das Kind später erhalten kann. Anwalt Mendelsohn hält diese Reform jedoch nicht für ausreichend: „Auch weiterhin kann die Mutter, wenn sie will, dauerhaft anonym bleiben.“

Das Straßburger Verfahren, bei dem erst in einigen Monaten mit dem Urteil zu rechnen ist, wird auch in Deutschland mit Interesse verfolgt. Zwei Gesetzentwürfe – einer aus Baden-Württemberg, der andere von einer interfraktionellen Gruppe von Bundestagsabgeordneten – forderten in diesem Sommer, auch bei uns anonyme Geburten zu ermöglichen, um so das Aussetzen von Kindern zu verringern. CHRISTIAN RATH