Nach mir die Abrissbirne!

Ein Marzahner Plattenbau in der Oberweißbacher Straße 2–4 soll abgerissen werden. Schon jetzt steht er zur Hälfte leer. Wer kann, zieht weg. Wer nicht kann, hofft auf ein Angebot der Wohnbaugesellschaft. Nur den Alten fällt die Trennung schwer

von ANTJE LANG-LENDORFF

Martin Stein hat den Absprung fast schon geschafft. „Meine Tage sind gezählt“, freut er sich und packt die letzten Kisten. In einer Woche zieht er weg aus der Oberweißbacher Straße 2–4, dem „Schandfleck von Marzahn“, wie er den 21-stöckigen Plattenbau nennt. Die Bewohner seien genauso verwahrlost wie das Haus, erklärt er. „Alles sozial Schwache, alles Assis hier.“ Gut an seiner Wohnung im höchsten Stockwerk findet er nur die Aussicht auf das Umland. Noch besser die Aussicht, dass das Gebäude bald nicht mehr steht.

Die Tage des grauen Doppelhauses sind gezählt. Als eine der ersten Platten in Berlin soll der graue Block abgerissen werden, da das Haus schon jetzt beinahe zur Hälfte leer steht. In den 90er-Jahren sanierte die Wohnungsbaugesellschaft Marzahn (WBG) 20.000 ihrer 26.000 Wohnungen. Die 1983 fertig gestellte Oberweißbacher Straße 2–4 fiel aus dem Programm, weil sie im Vergleich zu den anderen Häusern noch gut in Schuss war. Auch das wird der Platte nun zum Verhängnis: In einem Brief teilte die WBG den Mietern mit, dass das unsanierte Haus abgerissen werde, um das Wohnviertel insgesamt aufzuwerten. Es werde jedoch niemand vor die Tür gesetzt. Ein Auszugstermin stehe noch gar nicht fest.

Verwaiste Etagen

Die meisten Bewohner der Oberweißbacher sind von der Nachricht nicht überrascht. „Ich warte schon lange darauf, dass mir die Wohnungsbaugesellschaft eine andere Wohnung anbietet. Vielleicht zahlt sie mir jetzt sogar den Umzug?“, meint die 22-jährige Sabrina Berndt. Die allein erziehende Mutter will weg aus der Oberweißbacher Straße, verdient bei einem privaten Sicherheitsdienst aber nicht genug Geld, um sich etwas Besseres leisten zu können. Die WBG verlangt 4 Euro Miete pro Quadratmeter, viele Bewohner haben Mietminderung.

Sabrina Berndt sorgt sich hier um ihre dreijährige Tochter, die oft vor dem Haus spielt. Dort sitzen auch die Alkoholiker und trinken Dosenbier. „Überall Assis und Ausländer“, beschwert sie sich. „Manchmal schmeißen die auch Flaschen aus dem Fenster.“ Am liebsten würde sie ganz raus aus der Plattenbausiedlung, in ein Einfamilienhaus im Grünen. „Ein Bauernhof wäre toll, damit die Kleene Tiere haben kann.“

Die Mieter sind in den letzten Jahren in Scharen davongelaufen. Auf jedem Stockwerk sieht man abgerissene Namensschilder an den Klingeln. In den Fluren ist es unangenehm still. Kein Wunder: Seit fast zwanzig Jahren wurde hier nichts mehr gemacht. Das Wasser kommt bei manchen Mietern braun aus der Leitung. Die Tapete im Flur strotzt vor Graffitis und unleserlichen Unterschriften. „Ihr Wichser“, „Hai Nutte“, ein Hakenkreuz im Nottreppenhaus.

Bisher ist das Haus ein Einzelfall. Insgesamt 11.600 Plattenbauwohnungen stehen in den Großsiedlungen Marzahn und Hellersdorf zurzeit leer. Die verwaisten Wohnungen verteilen sich jedoch auf so viele Platten, dass die meisten Häuser noch zum Großteil bewohnt sind. Das könnte sich bald ändern: Laut einer Studie der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung steigt der Leerstand bis 2010 auf 17.000 Wohnungen. Immer weniger Menschen wollen offenbar in der Platte leben.

Martin Stein, der hier in einer Woche verschwindet, würde am liebsten in einen Altbau ziehen, in eine Zweizimmerwohnung mit Terrasse. Daraus wird erst mal nichts. Als Möbelverkäufer hat der 25-Jährige einen Job in München bekommen. Die Mietpreise dort sind so hoch, dass er wohl mit einem möblierten Zimmer vorlieb nehmen muss. Aber alles sei besser als die Oberweißbacher, sagt er.

„Viele suchen ein individuelleres, gutbürgerliches Umfeld“, erklärt Erika Kröber von der WBG Marzahn die sinkende Nachfrage nach Plattenbauwohnungen. „Im Sozialismus hat es vielleicht funktioniert, dass der Professor neben dem Arbeiter wohnt. Heute ist das anders.“ Mit dem Einkommen würden die Ansprüche steigen. Viele zögen zudem – wie Stein – ihren Arbeitsplätzen hinterher, von denen es in Marzahn wenig gibt.

Die alten Leute bleiben der Platte treu. „Icke wegziehn? Hab keen Interesse zu den Zigeunern“, schimpft ein beleibter Mann im Fahrstuhl. Seine Frau ist in der Oberweißbacher gestorben. Er kann sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Und auch Gerhard Voigt aus dem 17. Stock will nur ungern weg. Er habe von seiner Frau eine Villa in Grunewald geerbt, erzählt er, ganz in der Nähe von Götz Georges Haus. „Aber das is ja so einsam dort drüben“, meint er. Da könne er sich schon eher vorstellen, innerhalb von Marzahn umzuziehen, wie die Dame von unten drunter.

Die 73-jährige Hildegard Lückmann wohnt seit Ende August in einem sanierten Plattenbau an der Märkischen Allee. Die rundliche Frau mit lichtem Haar gehörte zu den ersten Bewohnern der Oberweißbacher. Auch sie hing an ihren vier Wänden. An jedem Quadratmeter Beton haftete eine Erinnerung. Ihre Kinder hat sie in der Oberweißbacher zum letzten Mal gesehen. „Die melden sich schon seit Jahren nicht mehr“, erzählt sie. Der Jüngste hat noch bei ihr in der Wohnung gelebt. Der, der jetzt tot sei, wegen einer Überdosis.

Dann bot ihr die WBG an, den Umzug zu zahlen. Sie ist mit ihrer Entscheidung zufrieden. Ein Schmuckstück sei die neue Plattenbauwohnung. Dort habe sie ein gefliestes Bad und einen Balkon, den könne man sogar abschließen. Und ihre Ruhe – in der Oberweißbacher hatten die letzten Monate direkt unter ihr Jugendliche gehaust, die nachts Schlagzeug gespielt und „Heil Hitler“ gebrüllt hätten. Ohne Tabletten sei an Einschlafen nicht mehr zu denken gewesen. Sie hätten in den Fluren gewütet, ihren Frust auf die Wände geschmiert. Im Fahrstuhl sollen sie Zigaretten ausgedrückt haben – man sieht die verkohlten Narben im braunen Plastik.

„Lass mich bloß mit deinem Scheiß in Ruhe“, steht in großen Lettern auf Martin Steins T-Shirt, als er in seiner Wohnung im 21. Stockwerk die letzten Umzugskisten packt. Der Aufdruck ist sein Motto: Von den Problemen der Nachbarn will er nichts wissen. 38 hätten sich hier schon aus dem Fenster gestürzt. Das habe ihm zumindest der Hausmeister erzählt. „Hoch genug isses ja, hier bei mir oben. Und sind genug hier, die haben schon abgeschlossen mit dem Leben“, meint er. Stein ist froh, wenn er all die „Assis“ nicht mehr täglich sehen muss und die Oberweißbacher nur noch ein „Schandfleck“ in der Vergangenheit ist.