Das traute Flair der Adenauerzeit

Der Mittelrhein ist Weltkulturerbe geworden und will in Zukunft mehr sein als eine Top-Destination für Kegelvereine. Mit dem Welterbe als Treibsatz soll neben feuchtfröhlicher deutscher Gemütlichkeit fürderhin auch Qualitätstourismus entstehen

von GEORG ETSCHEIT

Durch die Drosselgasse geht man nicht, man wird geschoben. Vor und hinter einem stapfen dampfende Menschen in kurzen Hosen, von links und rechts schallt Stimmungsmusik. Alle paar Meter staut es sich, dann kann der Besucher Details erhaschen von der, wie das Rüdesheimer Verkehrsamt textet, „fröhlichsten Gasse der Welt“: eine Runde alkoholisierter Amis im „Rüdesheimer Hof“; eine hungrige Familie über gewaltigen Tellern mit Eisbein und Kartoffelbrei im „Drosselhof“; Souvenirläden mit Kuckucksuhren, Hummelfiguren, Neuschwanstein-Reliefs; kontaktfreudige Männer und einsame Frauen in der Bar „Zum Engel“ – aktueller „Drink Tipp: Orgasmus“.

Auf halber Strecke ein kleiner, rappelvoller Platz mit geputztem Fachwerk, Reben, Glockenspiel: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“. Nur der Rhein, in dessen Namen hier „deutsche Romantik“ gegeben wird, ist nicht zu sehen, der fließt irgendwo am unteren Ende der wabernden Masse, verstellt von Bundesstraße und Bahndamm.

Seit ein paar Wochen firmiert Rüdesheim auch als „Tor zum Weltkulturerbe“. Denn rheinabwärts, jenseits von Drosselgasse und dem wilhelminischen Denkmalskoloss namens „Germania“, beginnt das Mittelrheintal, das die Unesco im Juni nach mehreren Anläufen nun endlich in die exklusive Welterbeliste aufgenommen hat.

Zwischen Rüdesheim und Koblenz hat der Fluss einen atemberaubenden Canyon geformt, der in Europa seinesgleichen sucht. Gut 40 Burgen klammern sich an den brüchigen Fels beiderseits des Stroms, von Kunstschätzen reiche, uralte Weinorte schmiegen sich an die dunklen Bergflanken mit ihren steilen Weinterrassen.

Wohlhabende englische Adelige begannen hier im 19. Jahrhundert ihre „Grand Tour“, die sie weiter führte in die Alpen und ins paradiesische Arkadien Italiens. Doch die Zeiten, als Dichter und gekrönte Häupter im Zeichen der „Rheinromantik“ an die Gestade des größten europäischen Stroms pilgerten, sind lange vorbei. Heute orientiert sich das touristische Niveau über weite Strecken immer noch am Adenauer-Ideal „feuchtfröhlicher“, spießbürgerlicher Gemütlichkeit: Wein, Weib und Gesang. Das Rheintal – eine Top-Destination für Kegelclubs und Männergesangsvereine. Der Tourismus im Mittelrheintal hat ein Qualitätsproblem.

In Boppard am anderen Ende des Weltkulturerbes müht sich Heino Rönneper vom „Forum Mittelrheintal“, den ramponierten Ruf der Region aufzupolieren. Jahrzehntelang hätten sich die Menschen im Tal auf ihren Lorbeeren ausgeruht. Der Rhein sei ein Selbstläufer gewesen – allerdings nur so lange, bis andere, dynamischere Regionen den Reisemarkt eroberten und Fernziele attraktiv wurden. „Unsere touristische Infrastruktur ist auf dem Stand der 60er-Jahre stehen geblieben“, diagnostiziert Rönneper die aktuelle Lage. Es gebe zu wenig komfortable Hotelzimmer, auch die Gastronomie und die touristische Nutzung der Burgen lasse zu wünschen übrig. Und mit einer schlagkräftigen gemeinsamen Vermarktung hapert es auch, bedingt durch einen „starken Egoismus und Lokalchauvinismus“, wie es auf der Internetseite des Mittelrheinforums heißt. Nun strebt man „auf gestalterisch hohem Niveau“ einen „niveauvollen Kultur-und Bildungstourismus“ an.

Erste, zaghafte Ansätze von Qualitätstourismus sind im Tal schon zu besichtigen, schließlich hat das Land Rheinland-Pfalz bereits etliche Millionen in ein ehrgeiziges Entwicklungsprogramm gesteckt. Eines der Projekte steht hoch oben auf der Loreley, jenem mythischen Felsen, der bislang außer einem Ruf wie Donnerhall und gelegentlichen Freiluftkonzerten wenig zu bieten hatte. Zur Expo 2000 wurde auf dem Hochplateau ein schickes, architektonisch durchaus anspruchsvolles Besucherzentrum errichtet. Dort kann der Gast in einer mit allen museumsdidaktischen Finessen gespickten Dauerausstellung dem Mythos der sagenumwobenen Rheinnixe auf den Grund gehen. Leider ist der erwartete Besucheransturm ausgeblieben. Selbst zur Hochsaison herrscht in dem teuren Neubau oft gähnende Leere, woran auch ein symbolischer Eintrittspreis von einem schlappen Euro offenbar nichts ändern kann.

Zisch – Bustür auf, hinein ins Restaurant, Kaffee und Kuchen heruntergewürgt, Aussicht abgehakt und Postkarte gekauft als Beleg für die Lieben daheim – zisch – Bustür zu und Abfahrt.

Das ist genau jener Stunden-und-Minuten-Tourismus, dem Herr Rönneper den Kampf angesagt hat. Nun muss man sagen, dass der Mittelrhein, trotz aller Klagen über ausbleibende Gäste und mangelnde Qualität, kein Notstandsgebiet ist, auch kein Hort der Abgeschiedenheit. Die Zahl der Gästeankünfte zwischen Rüdesheim und Koblenz pendelt seit Jahren um die 800.000 jährlich, die der Übernachtungen um 2 Millionen. Der typische Rheintourist ist jedoch der Tages- oder bestenfalls Wochenendtourist, der aus den benachbarten Ballungsgebieten anreist, oder der ausländische Globetrotter, der den „Burgenrhein“ auf dem großen Deutschlandtrip nebenbei mitnimmt.

„Eine Zukunft hat die Region nur, wenn wir wegkommen vom Tagestourismus“, sagt Thomas Merz von der Gesellschaft Mensch und Natur Rheinland-Pfalz in Bacharach, die sich für eine umweltgerechte Entwicklung der Region einsetzt. Dafür müssten die Leute aber auch etwas geboten bekommen. „Die Drosselgasse, wo man in zwei Stunden ganz Deutschland kompakt vermittelt bekommt, das kann es doch nicht sein.“

Zunächst müsste am Mittelrhein dem Beherbergungsgewerbe aufgeholfen werden. Doch in den engen Talorten, bedrängt von lärmenden Straßen und Bahnlinien, gibt es kaum Entwicklungsmöglichkeiten. Deshalb will Rönneper auf den stillen Anhöhen über den Weinorten kleine, dezentrale Feriensiedlungen schaffen. Landschaftsfressende Großprojekte, wie das Anfang der 90er-Jahre am Widerstand von Natur- und Denkmalschützern gescheiterte Monster-Feriendorf „Gran Dorado“ bei Oberwesel, soll es nicht mehr geben.

Der „Ferienhof Hardthöhe“ auf dem abgeschiedenen, sonnenverbrannten Hochplateau über Oberwesel ist das Vorzeigeprojekt der Verfechter einer nachhaltigeren Version von Rheintourismus. Mit herrlichem Blick auf die mächtige Schönburg und das tief eingefurchte Rheintal hat die Familie Lanius-Heck hier neben ihrem Aussiedlerhof sieben hölzerne Blockhäuser für Familienurlaube gebaut, die zwar nicht gerade landschaftstypisch sind, aber auch nicht weiter stören. Die neun rustikalen Ferienwohnungen seien fast immer ausgebucht, sagt Rita Lanius-Heck. Außer einer Toskana-verdächtigen Zahl von Sonnenstunden hat Familie Lanius-Heck ein Freizeitprogramm im Angebot, das es mit einem Ferienclub aufnehmen kann – von Reiten und Planwagenfahren über Stockbrotbacken auf dem eigenen Grillplatz bis zu gemeinsamen Stadt- und Burgführungen. Die hauseigene Beauty-Farm bietet Naturkosmetik, der Hofladen Hausgeschlachtetes, eigenen Wein, selbst gekochte Marmelade.

Noch ein Beispiel für die langsame touristische Konversion des Mittelrheintales: der „Posthof“ im Nachbarort Bacharach. Hier hat die „Gesellschaft Mensch und Natur“ direkt unterhalb der Wernerkapelle, Ikone der Rheinromatik des 19. Jahrhunderts, in einem historischen Gebäudekomplex ein alternativ angehauchtes Besucherzentrum eröffnet, das „Ort der Begegnung, Kommunikation und Information für Bewohner und Gäste des Mittelrheintals“ werden soll. Eine gehobene Gastronomie in den renovierten Räumen und Kellern der ehemaligen Posthalterei, basierend auf regionalen Produkten, hat den Anfang gemacht; eine Vinothek sowie eine Dauerausstellung zur „Faszination Mittelrhein“ sollen folgen.

Merz sieht die Zukunft des Mittelrhein-Tourismus „gerade nicht in spektakulären Eventparks“. Man könne die Menschen auch für Natur- und Kulturgeschichte begeistern. Einen Bergbau- sowie diverse Naturlehrpfade gibt es schon. Künftig soll ein weiterer Weg die malerischen Höhenburgen für den Wanderer besser erschließen.

Ambitionierte Konzepte eines gesellschafts- wie umweltverträglichen Tourismus gibt es reichlich. Aber ob sie ausgerechnet am Rhein mit seinem dürftigen Adenauer-Image funktionieren werden? Dagegen stehen – siehe Loreley – wohl nicht nur die Gewohnheiten eines trägen Publikums, sondern auch sehr handfeste kommerzielle Interessen. Etliche Kommunalpolitiker nämlich sehen die Anerkennung als Weltkulturerbe mehr als kostenlose Werbung und Quelle öffentlicher Zuwendungen denn als Instrument zur Erhaltung und – allenfalls behutsamen – Entwicklung einer schützenswerten Kulturlandschaft. So ist das Projekt einer neuen, landschaftsfressenden Rheinbrücke nahe der Loreley zwischen St. Goar und St. Goarshausen seit Jahren nicht totzukriegen, scheint im Zusammenhang mit dem aufstrebenden Provinzflughafen Hahn im Hunsrück sogar Auftrieb erhalten zu haben. Vor allem englische Touristen hofft man mit der Billigfluglinie Ryanair schneller an den Rhein schaufeln zu können. Eine weitere Brücke ist im Rheingau zwischen Rüdesheim und Bingen geplant. Beide Projekte könnten sich für ihre Verfechter freilich als Bumerang erweisen. Denn die Richtlinien der Unesco verbieten größere Veränderungen der Infrastruktur. Eine Streichung von der Liste des Weltkulturerbes könnte die Folge solcher Betonorgien sein.

Ferienhof Hardthöhe, Rita Lanius-Heck, Oberwesel, Tel.: (0 67 44) 9 43 40Posthof, Oberstr. 45, 55422 Bacharach, Tel.: (0 67 43) 59 96 63, Fax: (0 67 43) 59 69 67Der Kölner Frauengeschichtsverein bietet themenbezogene Schiffsrundfahrten auf dem Rhein. Termine: 22. 9. und 12. 10. 2002 – „Rheintöchter, Badenixen Kindesmörderinnen“. Die Zahl der Plätze ist begrenzt. Um Voranmeldung wird gebeten: Kölner Frauengeschichtsverein, Marienplatz 4, 50676 Köln, Tel.: (02 21) 24 82 65 www.netcologne.de/~nc-frankeir/index.htm