Gesucht: Antwort auf die Krise

Tausende kamen am Wochenende zum argentinischen Sozialforum, um Alternativen zur Politik der Regierung zu finden. Star der Veranstlatung war der Bolivianer Evo Morales

„Meine beste Universität waren der Hunger und die sozialen Kämpfe“

BUENOS AIRES taz ■ Zuerst sah alles danach aus, als seien die üblichen Verdächtigen wieder einmal zusammengekommen. An Ständen wurden Che-Guevara-Poster verkauft, gegen eine Spende gab es die Arbeiterpresse und es wehten unzählige blauweiße Argentinienfahnen. Aber das Sozialforum in Buenos Aires vom vergangenen Wochenende war mehr als ein folkloristisches Ritual.

Weit über hundert linke Organisationen – Professorenverbände und Arbeitslosengruppen, marxistische Theoriezirkel und Suppenküchen – hatten gerufen, um in Buenos Aires das in Klein zu veranstalten, was Anfang des Jahres im brasilianischen Porto Alegre für Furore sorgte. Unter dem Motto „Eine andere Welt ist möglich, ein anderes Argentinien ist möglich“ wurde vier Tage lang über mögliche Wege aus der Krise des Landes diskutiert.

Von der Regierung unter Präsident Eduardo Duhalde sind solche Vorschläge nicht zu erwarten. Duhalde ist zum Verwalter der Krise geworden; wie es weitergehen soll, darüber schweigt er. Aber auch unter den möglichen Kandidaten für die Präsidentenwahlen im kommenden Jahr ist keine Debatte darüber entbrannt, wie das Land aus der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte geführt werden könnte.

Dieses Ideenvakuum der nationalen Führungsriege versuchte das Sozialforum am Wochenende zu besetzen. Und hat damit offensichtlich den Nerv getroffen. Die Seminarräume der Universität von Buenos Aires waren bei fast allen Veranstaltungen überfüllt.

Der argentinische Politikwissenschaftler Atilio Borón versuchte der tiefen Krise seines Landes auf den Grund zu gehen. „Nirgendwo in Lateinamerika wurde das neoliberale Modell mit einer solchen Konsequenz durchgesetzt wie in Argentinien“, sagte er. Der Staat habe sich freiwillig aus Bereichen der Wirtschaft zurückgezogen, die in den Nachbarländern noch immer in staatlicher Hand sind. So habe Brasilien niemals seine Erdölgesellschaft verkauft, und selbst in Chile wurde nie daran gedacht, die Kupferproduktion zu privatisieren. Beides luktraive Einnahmequellen des Staates. In Argentinien hingegen habe, so Borón, eine „selektive Zerstörung des Staates“ stattgefunden, angetrieben von der Regierung, die ganz auf die freien Marktkräfte gesetzt habe.

Von derlei ökonomischen Fragen unberührt zeigte sich die aus Thailand eingeflogene Britin Nicola Bullard von der Nichtregierungsorganisation (NGO) „Focus on the global south“. Sie berichtete vom Widerstand gegen ein Staudammprojekt in Indien und von den sozialen Bewegungen in Asien. Bullard gehört zur Nomenklatura der NGO-Bewegung, die heute in Bangkok in einer Konferenz sitzt und morgen nach Buenos Aires jettet. Die NGO-Reisekader reden über Probleme und über soziale Akteure anstatt sich selbst an den Auseinandersetzungen zu beteiligen.

Ganz anders der Anführer der bolivianischen Kokabauerngewerkschaft Evo Morales. Noch vor fünf Jahren druckten Zeitungen in Bolivien Karikaturen mit der Schriftzeile: „Morales muss getötet werden.“ Doch vor wenigen Wochen wäre Morales fast Präsident Boliviens geworden. Dementsprechend selbstbewusst drehte er auf: „Meine beste Universität waren der Hunger und die sozialen Kämpfe“, rief er und beschwor den Kapitalismus zum größten Feind der Menschheit und der Umwelt. Tosender Applaus. Denn so einen wie ihn hätten sie gerne in Argentinien. Einen linken Anführer, der reden kann und ehrlich aussieht und sich in einen Volkstribun verwandelt könnte. Mit so jemandem könnte man auch vielleicht die Wahlen gewinnen, was derzeit aussichtslos ist.

INGO MALCHER