nachtvisionen auf mtv
: ANDREAS MERKEL befällt Clipkulturpessimismus

Albträume im Mainstream

Mitten in einer finsteren Hochhaussiedlung kämpft sich eine bucklige Oma ihren Weg durch den tristen Tag. Sie trifft auf ein paar spielende Kinder, die das trostlose Szenario wenigstens ein bisschen aufheitern könnten. Aber der Albtraum fängt jetzt erst an: Denn die süßen Kleinen haben bei genauerem Hinsehen alle das gleiche Gesicht, unter jedem Mittelscheitel lacht dasselbe debil-diabolische Grinsen hervor. Es gehört Aphex Twin, und zu sehen ist es im Video zu dessen Song „Come To Daddy“. Regisseur Chris Cunningham zeigt hier, wozu dieses Genre fähig ist – ein paar Minuten großes Kino fürs Musikfernsehen.

Dort sind Videos allerdings in erster Linie Werbetrailer, die mit ihrer Länge von selten mehr als drei Minuten eigentlich wie gemacht scheinen zum Immer-mal-wieder-Reinzappen während eines ganz normalen Fernsehabends, beispielsweise in den Werbepausen bei Harald Schmidt. Doch auf MTV und Viva laufen immer seltener tatsächlich Videos, sondern vielmehr eher irgendwelche obskuren Selbstmördershows, Ozzy Osbourne in der Küche oder eine chronisch gut gelaunte Charlotte Roche. Dass man auf einem Musikkanal tatsächlich Videoclips zu sehen bekommt, passiert eigentlich nur nachts, wenn man nach Hause kommt und kurz noch mal den Fernseher anmacht, um dann irgendwann, beispielsweise zu „Miss Lucifer“, dem infernalischen neuen Clip von Primal Scream, bedröselt aufzuwachen.

„Night Videos“ nennt sich die allnächtliche Programmschiene auf MTV, in der – ohne Moderator und kaum unterbrochen von Werbung – von eins bis fünf etwa sechzig Musikclips gezeigt werden. Doch wenn man in Zeiten der Schlaflosigkeit vier Stunden am Stück durchhält, muss man leider feststellen, dass das gesamte Genre nur noch aus zwei Spielarten zu bestehen scheint.

Erstens: HipHop. Dicke-Goldketten-Träger hängen auf irgendwelchen Partys ab oder fahren langsam in offenen Luxusschlitten durch die Gegend. Zwischenschnitt auf leicht bekleidete Frauen, die lasziv am Pool rumtanzen und nichts anderes im Kopf zu haben scheinen, als dringend mit dem Sänger zu schlafen (oder, die P.-Diddy-Variante: diesen mit dem nächstbesten Motherfucker zu betrügen) – „Bitches“ eben. Den wahren HipHopper lässt das aber alles unbeeindruckt. Er macht mit seinen Händen wegwerfende Pistolengesten und rappt fluchend in die Kamera.

Zweitens: hart gerockt. Eine wahlweise Alternative-, NuMetal-, Funpunk- oder sonstige Schweinerockband spielt sich – mit echten Instrumenten! – live auf einer Bühne die Seele aus dem Leib. Oder auf einem Basketballfeld. Oder bei einer MTV-Campus-Invasion. Oder auf dem Set des neuen Batman-Films. Wichtig ist: Die Band ist im Bild! Die Kamera zeigt die Jungs beim Gitarrenschrubben! Dazwischen notgedrungen ein paar Frauen (siehe HipHop), aber bitte nur kurz und alles ein bisschen mehr in Richtung Verlassenwerden (Erwachsenenpop) oder Kurze-Hosen-und-nur-noch-Spaß-haben („American Pie“).

Anmerkung am Rande: Sollte es sich um weibliche Künstler handeln, müssen die versuchen, irgendwie das Beste aus diesen Vorgaben zu machen. Gern auch parodistisch, aber bitte immer schön sexy!

Zappt man sich durch die MTV-Nachtstrecke, nimmt man die wenigen Ausnahmen zwischen den immer gleichen Clips all der Nellys und Master P.s auf der einen, all der Lost Prophets und Nerds auf der anderen Seite dankbar auf: Etwa derzeit George Michaels „Shoot the Dog“ als schwuler Comic-Strip in der Ästhetik von Beavis and Butt-Head. Oder „Foolish“ von Ashanti, in dem Szenen aus Martin Scorseses Mafia-Epos „Good Fellas“ in die Welt der farbigen Originalgangsta kopiert wurden. Und natürlich („Schnallst du, wer zurück ist!?“) Eminem, dessen Slim-Shady-Show „Without me“ von seiner Plattenfirma sogar mit Untertiteln für den deutschen Markt versehen wurde – wobei fraglich bleibt, ob die Kids tatsächlich solche Übersetzungen „schnallen“ wie: „Wir brauchen mehr Kontroverse!“

Auf die Idee, dass Regisseure wie Spike Jonze oder David Fincher einmal ihre Karriere in diesem Genre begannen – und seine vielfältigen Möglichkeiten dabei immer wieder ausreizten –, kommt man am Ende einer langen Clipnacht vor dem Fernseher leider trotzdem nicht.