Aufbruch in eine neue Zeit

Die Abschaffung der Todesstrafe und die Anerkennung einer kurdischen Identität in der Türkei sind ein symbolischer Friedensvertrag mit den Kurden

„Ein wichtiger Schritt, dem hoffentlich nun auch Veränderungen in den Köpfen folgen“

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Ein Fest für die Demokratie“, titelte am Sonntag die Istanbuler Tageszeitung Radikal und befand sich damit in bester Gesellschaft. Die großen Zeitungen, Wirtschaftsverbände, kurdische Intellektuelle und Sprecher der christlichen Minderheiten sind sich einig: Samstag war ein historischer Tag für die Türkei. Als um sechs in der Frühe nach einer 16-stündigen Debatte die Abgeordneten zur Schlussabstimmung über das gesamte Reformpaket die Hände hoben, katapultierten sie die Türkei damit in eine neue Zeit.

In einem für die neuere Geschichte der Türkei beispiellosen parlamentarischen Kraftakt wurde eine über zehn Jahre dauernde Debatte zum Abschluss gebracht – und das zu einem Zeitpunkt, zu dem wirklich niemand mehr damit gerechnet hatte. Seit Mitte der Achtzigerjahre, seit die Putschgeneräle vom 12. September 1980 die Macht wieder an zivile Politiker übergeben hatten, wurde in der Türkei niemand mehr hingerichtet und infolgedessen auch immer wieder über die Abschaffung der Todesstrafe diskutiert. Seit der damalige Ministerpräsident Süleyman Demirel Anfang der Neunzigerjahre erstmals im Parlament davon gesprochen hatte, man müsse die „kurdische Realität“ des Landes anerkennen, war klar, dass diese Erkenntnis auch rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen muss. Längst war in der Türkei eine Mehrheit der Auffassung, dass der Bürger seine Rolle gegenüber dem Staat neu definieren müsse.

Doch auf jeden Schritt nach vorn folgte in den letzten Jahren prompt ein Rückschlag. Das galt vor allem im Umgang mit den 15 Millionen Bürgern kurdischer Abstammung. Auf eine Phase der Entspannung im Bürgerkrieg mit der kurdischen Guerilla PKK im Jahre 1992, als es Bemühungen um eine politische Lösung des blutigen Konflikts gab, folgte eine Eskalation nicht nur der Kämpfe im Südosten, sondern auch bei der Verfolgung und Liquidierung vermeintlicher oder tatsächlicher PKK-Sympathisanten im Westen der Türkei. In dieser Welle der Repression blieben sowohl die Meinungsfreiheit als auch elementare Menschenrechte wie etwa die menschenwürdige Behandlung von Gefangenen auf der Strecke. Erst gegen Ende der Neunzigerjahre und vor allem, nachdem durch die Festnahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan (1999) der Krieg in den kurdischen Bergen de facto beendet war, veränderte sich die öffentliche Debatte.

Immer häufiger forderten jetzt Menschenrechtler, Schriftsteller, Journalisten und einzelne Politiker eine grundsätzliche demokratische Neuorientierung des Landes. Die Nationalisten der MHP, die im Taumel der Begeisterung über die Festnahme Öcalans als zweitgrößte Fraktion ins Parlament eingerückt waren, schreckten dagegen nicht davor zurück, auch Gewalt einzusetzen, um diese Entwicklung zu stoppen. Vor allem im letzten halben Jahr, nachdem durch die Zeitvorgabe aus Brüssel klar war, dass nun echte Entscheidungen fällig waren, eskalierte der Konflikt noch einmal.

Da Demokratie und Freiheitsrechte im gesellschaftlichen Diskurs eng mit der EU verknüpft sind, versuchten nationalistische Kräfte eben die EU und ausländische Institutionen, die damit in Verbindung gebracht wurden, zu denunzieren. Karen Fogg, bis vor einem Monat EU-Repräsentantin in Ankara, wurde düpiert, indem man hunderte ihrer E-Mails knackte und einem nationalistischen Blättchen zuspielte, das sie dann teilweise veröffentlichte. Ziel der Aktion war es vor allem, ihre türkischen Ansprechpartner als „Verräter“ zu brandmarken. Dasselbe Ziel verfolgen absurde Spionageanschuldigungen gegen deutsche politische Stiftungen, die dadurch von ihren türkischen Partnern isoliert werden sollen.

Wo bleiben die demokratischen Kräfte, fragten sich viele, wenn sie nicht einmal verhindern können, dass Staatsanwälte des Staatssicherheitsgerichts die Stiftungen durchsuchen, um Belege für abwegige „Spionagevorwürfe“ zu finden? Im politischen Establishment schien es ein Patt zwischen Proeuropäern und Nationalisten zu geben, das letztlich nur zur Fortschreibung des Status quo zu führen schien. Erst die Regierungskrise anfang Juli brachte wieder Bewegung in die politische Szene.

Doch auch jetzt sah es zunächst nach einem Sieg der Nationalisten aus. MHP-Parteichef Devlet Bahceli war es, der die vorgezogenen Neuwahlen ins Gespräch brachte und letztlich auch seinen Zeitplan durchsetzte. Dem vom kleineren Koalitionspartner Anap ins Parlament eingebrachten Reformpaket gab zunächst niemand eine Chance, weil alle Kommentatoren davon ausgingen, dass nach einem Votum für Neuwahlen kein Abgeordneter sich mehr mit so weit reichenden Reformgesetzen befassen wollte.

Laut Umfragen will die Mehrheit der Bevölkerung einen EU-Beitritt

Doch wider Erwarten bewiesen die viel gescholtenen Parlamentarier, dass sie doch mehr Kontakt zu ihren Wählern hatten, als vermutet. Zwei Drittel der türkischen Bevölkerung, das zeigen alle Umfragen, wollen den EU-Beitritt der Türkei. Und drei Jahre nach der Verhaftung Öcalans ist eine Mehrheit auch zu einem Neuanfang mit Kurden, Armeniern, Griechen und anderen Minderheiten bereit.

Diese Grundstimmung in der Gesellschaft fand nach der De-facto-Auflösung der Regierung dann doch noch ihren Ausdruck im Parlament. Eine breite Mehrheit der Parlamentarier erkannte, dass es auch für sie besser wäre, vor den Wahlen über die Reformen abzustimmen. Das Echo gibt ihnen Recht. Die Entscheidung über die Abschaffung der Todesstrafe – die auch Öcalan und alle anderen zum Tode Verurteilten, deren Todesurteil aber vom Parlament noch nicht bestätigt war, nun vor der Hinrichtung bewahren wird – und die Zustimmung zu kurdischen Medien und Unterricht in Kurdisch machen nicht nur den Weg nach Europa frei, sondern sind vor allem ein symbolischer Friedensvertrag mit den Kurden.

Feridun Celik, Bürgermeister von Diyarbakir, der Stadt mit dem größten Anteil kurdischstämmiger Bevölkerung im Osten des Landes, und einer der führenden Politiker der Hadep, der bislang einzigen legalen pro-kurdischen Partei in der Türkei, ist sich sicher: „Die Abstimmung war ein sehr, sehr wichtiger Schritt, dem hoffentlich nun auch die Veränderungen in den Köpfen folgen werden.“