Die Heilerinnen

Die Curanderas sind überzeugt, Menschen durch spirituelle Reinigung vom Schmerz befreien zu können. Ein Besuch im mexikanischen Juchitán

Das Basilikum ist schwarz geworden, es hat alle negative Energie aufgesogen

von UWE B-THOMSEN und HERBY SACHS (Fotos)

Na Marce empfängt ihre Klientin in ihrem Patio unter einem großblättrigen Mandelbaum und einem rotblütigen Hibiskusstrauch. In ihrem weißen Kittel wirkt sie wie eine Priesterin. Mit geschlossenen Augen versenkt sie sich in die Anrufung des dreieinigen Gottes, Marias und ihrer Hilfsheiligen Santa Teresita del Mar, deren Beistand sie für die Patientin herbeifleht.

Sie massiert ihr den Kopf, den Nacken, die Schultern, Brust, Arme und Hände mit Basilikum, Ei, Zwiebel und Limonen und zieht damit die ungesunden Kräfte – „das, was nicht nach Gottes Willen ist“ – aus dem Körper heraus. Unter Stöhnen – die Patientin mit dem Basilikum fast peitschend – versucht sie den bösen Schatten zu vertreiben.

Dann macht sie eine Faust, als packe sie etwas, und öffnet sie, während sie zischend zwischen die Finger bläst: „Macht euch fort, Einsamkeit, Schmerz und Bitterkeit, weicht von diesem Menschen, fort mit euch, fort!“

Es ist harte Arbeit, der Schweiß steht ihr auf der Stirn. Das Basilikum ist nahezu schwarz geworden, weil es alle negative Energie aufgesogen hat. Na Marce kehrt die Überbleibsel der Reinigung zusammen, ein Plastikhandschuh schützt sie vor der Berührung, denn diese Reste sind jetzt giftig. Sie erzählt, die Frau werde von Schlaflosigkeit gequält, weil ihr Mann sie schlage, sie aber nicht freigeben wolle. Jetzt sei das Gewicht von ihr genommen, das sie bedrückte, die ganze negative Energie, die sie unfähig mache zu handeln.

Bei verschiedenen Besuchen in Juchitán, einer kleinen Stadt im Süden Mexikos, nicht weit von der Pazifikküste, haben wir bei dem Volke der Zapoteken eine Form von Naturkräften kennen gelernt, die von „weisen Frauen“ zur Heilung von Krankheiten und anderen Übeln eingesetzt werden. Es sind die Curanderas, die Heilerinnen. Von einem Großteil der Ärzte nicht ernst genommen, erfahren sie aus dem Rest der Bevölkerung regen Zulauf, und das gilt keineswegs nur für die so genannten einfachen Leute.

Die Curanderas lindern und heilen Not und Krankheiten wie Verrenkungen, Entzündungen, Verletzungen und alle Arten von Schmerzen, auch seelische Beschädigungen, die sich körperlich auswirken. Dazu gehören neben Schlaflosigkeit, Albträumen, Verspannungen auch envidia, Stress und Druck durch Neid und Bosheit des sozialen Umfeldes etwa beim Mobbing.

Krankheiten werden nicht als ausschließlich chemisch organische Prozesse, sondern als von einem Übel verursachter Vorgang verstanden, der den ganzen Menschen ergreift, und diese negative Energie gilt es durch Reinigung oder Heilung aus dem Körper zu vertreiben.

Die meisten Curanderas arbeiten bei sich zu Hause vor dem Hausaltar oder in „ihrem Tempel“, einem spiritualistischen Andachtsraum, den sie mit anderen Gläubigen teilen. Die Patientinnen kommen auf Empfehlung von Bekannten oder lassen sich schon seit Jahren betreuen. Gewöhnlich bringen sie die für die Reinigung nötigen Utensilien – Basilienkraut, zwei Limonen, zwei grüne Chilis, eine violette Zwiebel, ein Hühner- oder Truthennenei vom Bauernhof und meist Vicks VapoRub – selbst mit. Als heilkräftigste Tage gelten Dienstag und Freitag.

Während Na Marce ihre Heilungen praktiziert, hat ihre Schutzheilige von ihr Besitz ergriffen und wirkt durch sie hindurch. In einer Art Trance oder Ekstase ist sie zur materia, zur stofflichen Hülle der göttlichen Kraft, geworden. Sie erzählt, dass die Heilungen sie zwar sehr anstrengen, sie aber auch stärken, sodass sie sich, wenn sie einige Tage nicht „arbeiten“ konnte, schwach und unausgefüllt fühlt.

Na Ofelia, Heilerin aus einem anderen Stadtviertel, blickt auf der Suche nach der Krankheit der Patientin in die Augen, umfasst ihre Handgelenke, greift manchmal kurz nach der Vene in der Armbeuge und erkennt mit Hilfe ihres Schutzgeistes Samuel de la Montaña das Übel und die notwendige Hilfe. Sie und andere Curanderas verschreiben auch Rezepte für Heilkräuterkompressen und -tees, Bäder, raten aber auch zu bestimmten Gebeten, Blumen in der Wohnung und Kleiderfarben oder verabreichen umfassende Massagen. Da nicht sie es sind, die heilen, sondern die göttliche Kraft in ihnen, erwarten sie keine Entlohnung für die Behandlung, allerdings ist eine Gabe von 10 bis 50 Pesos, etwa 1 bis 5 Euro, üblich.

Die Arbeit der Heilerinnen in Juchitán steht in einer langen medizinischen, religiösen und sozialen Tradition und besitzt einen wichtigen Stellenwert für die kulturelle Identität der Region. Dabei werden Heilungen manchmal zu Wundern aufgebauscht, die aus dem Reich der Fabel stammen. Der Grat zwischen Scharlatanerie und glaubwürdiger Ernsthaftigkeit ist schmal.

Juchitán, eine Stadt mit etwa 120.000 Einwohnern, hat einen gewissen Ruhm erreicht, da hier die Frauen mehr als anderswo das Sagen haben und durch ihre prächtige Würde und Selbstverständlichkeit das Lebensbild im Haus und auf den Straßen prägen. Außerdem lieben sie es, ihre ansehnliche Leiblichkeit in bunt bestickte Mieder und weit schwingende lange Röcke zu hüllen und so viele Feste zu feiern, wie es nur irgend geht.

Dem gängigen Jargon entsprechend würde man die Bewohner dieser Region „Indios“ nennen, denn als solche meinten ja die Spanier alle eingeborenen Völker dieses Erdteils bezeichnen zu müssen. Aber dem häufigen Vorurteil, wie solche auszusehen hätten, nämlich barfuß, ängstlich, verwahrlost und halb verhungert, entsprechen sie keineswegs und lachen sich kaputt, wenn man sie so nennt.

Sie sind zuerst „Zapoteken“, sprechen auch stolz noch ihre Sprache. Außerdem sind sie „Mexikaner“ und leben mit Genuss und Freude in einem gewissen Wohlstand, der hauptsächlich von den Handel treibenden Frauen erwirtschaftet wird. Der Erlös aber wird nicht in Palästen oder Aktienpaketen angelegt, sondern im wahrsten Sinn des Wortes zur Lebenslust „verwertet“, nämlich in Patronats-, Familien- und Zunftfesten oder anderen Formen der cooperación. In dieses soziale Geflecht sind Na Marce, Na Ofelia und alle ihre Schwestern aktiv eingebunden. Was sie tun und darstellen, ist Bestandteil dieser Lebenskultur.

Kernstück der spiritualistischen Religion und Riten ist die mediale Erfahrung, das heißt, der oder die Spiritualistin wird zum Sprachrohr und Werkzeug Gottes, der Heiligen, des Geistes eines Toten. In der Initiation wird sie zur stofflichen Hülle, zur materia, in der die geistige Kraft sich manifestiert. Aus diesem Grunde haben sich die Heilerinnen den Spiritualisten angeschlossen, weil sie hier Glaubensschwestern und -brüder fanden, die die zentrale Erfahrung mit ihnen teilten, dass die göttliche Energie in sie eintritt, durch sie wirkt und aus ihnen spricht.

Die Spiritualisten sind eine Glaubensgemeinschaft ohne hierarchische oder zentrale Organisation, die sich zum Gebet in ihren „Tempeln“ zusammenfinden, um ihre mentalen und Glaubenskräfte zu bündeln, und bei denen la Trinitaria mariana, die Heilige Dreifaltigkeit mit Maria, durch ein Medium zu ihnen spricht. Der erste „Tempel“ der Spiritualisten wurde in Mexiko-Stadt vor etwa 70 Jahren gegründet, in Tehuantepec vor 50 Jahren. Die Heilerinnen Juchitáns sind nicht aus dieser Bewegung hervorgegangen, aber die meisten haben sich ihr in den letzten Jahren angeschlossen.

Wir hatten das Glück, Ostersamstag von Na Ofelia zu einem Treffen der Spiritualisten und Heilerinnen an einen einsamen Pazifikstrand eingeladen zu werden. Es waren hunderte, die dort abends zum Gebet auf dem grauen Sand am Rand einer halb ausgetrockneten Lagune zusammenkamen. Die Gläubigen in ihren weißen Kitteln bildeten um die Hilfesuchenden herum ein Dreieck und sammelten ihre spirituellen Kräfte in gemeinsamen Gebeten und Gesängen.

Im Morgengrauen des nächsten Tages wurde wieder ein Dreieck gebildet, und eine Spiritualistin mit medialen Fähigkeiten sprach aus, was Gott ihr eingab, von den verhärteten Seelen, und wie wichtig es sei, seine Stimme im eigenen Herzen zu finden. Neben ihr saßen sechs Schwestern und Brüder, die sie im geistigen Raum stärken und schützen sollten, da sie während ihrer Trance sehr verletzlich sei. Zum Schluss wurde den Kranken und Hilfesuchenden die gemeinsame geistige Kraft mit auf den Weg gegeben. Die Reinigung wurde in den anrollenden Wellen des Pazifiks fortgesetzt, ein heiliges Badevergnügen!