Neue Klettergriffe braucht die Stadt

taz-Serie „Berliner Bergwelt“: Im Humboldthain finden sich, 85 Meter über dem Meeresspiegel, noch Spuren des Kriegs. Nur Kletterer wie Thomas Meier bestürmen heute die Nordwand des ehemaligen Bunkers im Wedding. Gefährlich ist der Aufstieg nicht. Probleme haben die Bergsteiger trotzdem

von THILO KUNZEMANN

Wenn es so etwas wie den Albtraum des Großstadtkletterers gibt, dann wurde er am Kunstfelsen im Friedrichshainer Volkspark bittere Realität. „Die haben einfach die Griffe geklaut. Mehr als hundert Stück aus bestem Kunstharz-Sand-Gemisch – einfach abgeschraubt und geklaut“, beschwert sich Thomas Meier. Die Empörung treibt ihm auch Wochen nach der Schandtat die Zornesröte ins Gesicht.

Mit 36 Jahren gehört Meier zu den Berliner Sportkletterpionieren, zum alten Eisen also. „Früher hatte ich zehn Kilo weniger auf den Rippen, die muss man erst einmal hochziehen.“ So ist das, wenn man sein Hobby zum Beruf macht, auch bei Kletterern. Meier betreibt einen Bergsteigerladen. Und obwohl er mehr Zeit im Büro als an der Kletterwand verbringt, kennt kaum einer die Berliner Bergsportszene besser. Doch so etwas wie im Volkspark hat er noch nicht erlebt. „Echte Kletterer können das nicht gewesen sein, die machen das nicht“, verteidigt er seine zahllosen Sportfreunde. „Hier im Humboldthain wäre das nicht passiert. Wer am Bunker Griffe klauen will, braucht mehr als eine Leiter. Der muss wirklich klettern können.“ Und welcher Kletterer, sinniert er weiter, sägt schon den Ast ab, auf dem er sitzt? Oder klaut den Griff, an dem er hängt?

Viel zu stehlen gibt es allerdings nicht. Nur wenige bunte Kunstharzgriffe zieren den grauen Betonklotz. Die Wand ist nichts für Anfänger. Hier trifft sich seit fast zwei Jahrzehnten die Bergsteigerelite der Stadt. Denn wer die rund 15 Meter bis zur unteren Bunkerkrone überwinden wollte, musste sich bis vor zehn Jahren entweder an den Einschusslöchern von MG-Kugeln und Granaten festhalten, oder er klemmte seine Finger in einen der Risse, die den Bunker seit den vergeblichen Sprengversuchen im Jahre 1948 wie ein Spinnennetz überzogen.

Nur zwei der vier Flaktürme konnten die Sprengmeister damals zerstören. Um auch die meterdicken Betonwände auf der Nordseite in die Luft zu jagen, wären gewaltige Explosion nötig gewesen. Angeblich hätten die Erschütterungen aber auch die Gleise der nahen S-Bahn-Station Gesundbrunnen beschädigt. Die Türme blieben, stattdessen wurde die zerborstene Südflanke mit 1,6 Millionen Kubikmetern Trümmermaterial aufgeschüttet und bepflanzt. Mit 85 Meter Höhe (über N.N.) gehört die so geschaffene Humboldthöhe zwar nicht zu den höchsten Gipfeln der Stadt, bietet dafür aber die mit Abstand schwierigsten Nordwandanstiege. Vom kinderleichten ersten bis zum extrem schweren elften Grad reicht die offizielle deutsche Schwierigkeitsskala derzeit. Der Humboldthain stellt da, mit einigen Touren im 10. Grad, auch für Profis eine Herausforderung dar.

1989 wäre es jedoch mit der Kletterherrlichkeit beinahe vorbei gewesen. Aus Sicherheitsgründen beschloss die Stadtverwaltung, den Bunker zu sanieren und neu zu verputzen. Alle Eingänge zu den einsturzgefährdeten Innenräumen wurden zugemauert. Unter einer 10 Zentimeter dicken Betonschicht verschwanden die Sprengrisse und ein Großteil der Löcher, an denen sich die Berliner Kletterer bis zur Generalüberholung nach oben gehangelt hatten.

Nur mit Saugnäpfen wären viele der klassischen Anstiege noch möglich gewesen. Fast schien es, als wären die Klettertage am Bunkerfels vorbei. Doch Meier und einige Kletterfreunde nutzen die Gelegenheit und überzeugten das Stadtbauamt und die beauftragte Baufirma von der Bedeutung des Bunkers für Berlins Bergsteiger. Drei Wochen lang durften sie nach Abschluss der Sanierung das Baugerüst und die Schlagbohrmaschinen der Handwerker benutzen. „Wir sind fast jeden Tag auf das Gerüst gestiegen, haben mit den Pressluftmeißeln Griffe geschlagen und Haken gebohrt. Im Schnitt entstanden zwei Touren pro Tag“, erinnert sich Meier.

Mittlerweile überziehen rund 60 Kletterrouten die Betonwände. Um die Sicherheit der Großstadtalpinisten zu gewährleisten, holte sich der Berliner Alpenverein – offizieller Pächter der Bunkerwände – sogar den Münchner Pit Schubert zu Hilfe. Der beim Deutschen Alpenverein angestellte Diplomingenieur gilt seit Jahrzehnten als „Sicherheitspapst“ des deutschen Klettersports. Seine Kletterhaken übertreffen auch die strengsten TÜV-Richtlinien. „Den hat Schubert gebohrt“, sagt Thomas Meier entsprechend andächtig und deutet auf einen Ringhaken. „Da können Sie vier Tonnen dranhängen, und der bricht nicht.“

Sicherheit hin oder her, den drei Meter hohen Zaun aus massiven Stahlstäben rund um die Aussichtsplattform des Bunkergipfels findet Meier doch etwas übertrieben. „Das sieht jetzt aus, als wollten wir eine Gefängnismauer hochklettern.“ Angesichts der Unmengen zerbrochener Bierflaschen, die sich auf den Terrassen über der Kletterwand finden, scheint der Zaun aber berechtigt. Wer weiß, wie viele Spaziergänger sonst wohl im glücklichen Feierabendrausch vor den Füßen der Kletterer aufgeschlagen wären. So aber sind die beiden Flaktürme zum beliebten Familienziel geworden, und es muss auch kein Elternpaar um seinen Nachwuchs fürchten.

Wie auf jedem echten Aussichtsberg steht übrigens auch auf der Humboldthöhe, etwas abseits installiert, eine Panoramatafel. Darauf finden sich die wichtigsten Nachbar„gipfel“, vom Pankower Wasserturm bis zur Segenskirche. In natura zu sehen sind sie allerdings nicht. Die für Berliner Verhältnisse ungewöhnlich vielfältige Humoldthainflora versperrt den Blick. Schlingpflanzen ranken sich um kanadischen Bergahorn, Ebereschen, Pappeln und Buchen. Haselnusssträucher und Holunderbüsche schließen die Lücken. Und als wollte sich die Natur für den Betonwald der Stadt entschädigen, verwandelt sie unmerklich auch den kantigen Betonklotz. Von der Unterseite der überhängenden Bunkerkrone wachsen Stalaktiten in die Tiefe. An etlichen Stellen tritt Wasser aus der Wand. Wo es verdunstet, haftet sich der Kalk an Putz und Mörtel und bildet runde, organisch anmutende Gebilde. Grüne Flechten und Moose überziehen den Beton.

Noch hält die Stadt dagegen. Ein bunter, manchmal silbern schimmernder Graffitigürtel umfasst den Wandfuß bis in Kopfhöhe. Sehr zum Ärger der Kletterer. „Wir müssen die Griffe und Tritte immer wieder frei kratzen. Die Farbe macht den Beton spiegelglatt und schmierig“, sagt Meier und reibt prüfend über die jüngsten Kunstwerke. An manchen Stellen überdecken Liebesschwüre und Tags die Routennamen – Berliner Kletteralltag. Ein spezielles Problem aber blieb den Kletterern bisher erspart. Mauerspechte.

Zwölf Jahre nach der Wende ist der Bedarf an bunt besprühten Betonstücken zwar geringer, aber auch „Originalmauervorräte“ halten nicht ewig vor. Ein Horrorszenario, das Meier nicht schrecken kann. „Die Mauer war ein Witz gegen den Bunkerbeton. Einfach was rausmeißeln, das kannste vergessen.“ Und so eine Schlappe wie mit den geklauten Griffen soll es auch nicht mehr geben. „Wir planen gerade eine Aktion mit dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg.“ Neue Griffe für die Stadt. Diesmal aber ohne Schrauben – ein spezieller Zweikomponentenkleber soll Diebe entmutigen. „Schließlich“, sagt Meier und betrachtet seinen geliebten Kletterbunker, „sind wir hier in Berlin.“