grass im juni, stehpulte im juli von GERALD FRICKE
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Es war schon dunkel geworden in der großen Stadt. Nur einige Bildschirme flackerten noch leise vor sich hin in der einsamen Internetagentur. Im „großen Konfi“ lümmelte eine Hand voll unverzagter Kreativer. Die „Großwetterlage“ pendelte zwischen Missmut, Lethargie und Euphorie. Einige ungegessene Pizzaränder erkalteten, ein finaler Kaffee war aufgesetzt. Da kündeten wichtige Schritte von hohem und überraschendem Besuch. Die Glastüren öffneten sich – und ein trat Günter Grass.

Eine Verbandelung, die hier nicht näher erläutert werden möchte, hatte den großen Welterklärer in die New Economy geführt. Atemlose Spannung erfüllte den Raum, der noch kurz zuvor die argen Worte: „Das macht keinen Sinn“ und: „Ist das wirklich sexy?!“ schlucken musste. Ähnlich ergriffen muss das anständige Deutschland 1971 beim Kniefall von Willy Brandt gefühlt haben, so dachte Ernst, der neue Praktikant. An den Wänden hingen wirre Grafiken. Überschrieben waren sie mit „consumer benefits“ und – hoppla – „Die Idee“. Unschuldige, viel zu große, ja sesamstraßig aufgemotzte grüne, rote und blaue Buchstaben quengelten sich auf Flipcharts, umrahmt von provozierenden Suggestivfragen – wie beispielsweise: „User-Erwartung?“.

Nun war alles anders. Viele Pfeile, Strichmännchen und naive Landschaften hatten sich eben noch sehr wichtig genommen. Mit einem Mal wurden sie kleinlaut. Nachdenklich nuckelte und ruckelte der große Sprachschöpfer an seiner Nobelpreis-Pfeife und ließ die ganze Szenerie auf sich wirken. Dann ging es los: Globaler Turbokapitalismus, Rechtsextremismus, digitale Revolution, ratterten die Stichwörter. Ernst hakte mutig ein: „Sie bekennen sich bewusst dazu, keinen Computer zu benutzen. Wo fangen Ihre Zweifel an?“ – „Die Tatsache, dass ich ihn nicht benutze, heißt ja nicht, dass ich etwas gegen Computer habe“, führte der unbequeme Warner aus. „Meine Zweifel fangen aber an, wenn sie etwas suggerieren, was man Kommunikation nennt, was jedoch nur ein starkes Surrogat für wirkliche Kommunikation ist. Junge Menschen nehmen den Computer als etwas Selbstverständliches, und gerade bei jungen Menschen verlagert sich das, was man landläufig unter Kommunikation verstand, ins Internet, in eine virtuelle Welt.“ Das saß.

Die zauberhafte Texterin zog nun mit Günter im Krebsgang durch die reale Welt der Agentur. Unterbrochen wurde der beiden angeregte Metakommunikation durch den Geschäftsführer, der mit einem Mal auf der Matte stand. Wie das mit den Arbeitszeiten sei und warum es hier keine Stehpulte gebe, mahnte Günter Grass. Doch, doch, Stehpulte solle es bald geben. Ja, das wäre auch richtig so, man müsse schließlich drei Stunden im Stehen arbeiten, dann eine im Sitzen. Bis wann das denn erledigt sei? „Bis Sie wiederkommen!“, dienerte der oberste Verantwortungsträger. Im Juli? Gut, im Juli. Prima.

Der Blechtrommler verabschiedete sich zufrieden. Ergriffene Stille im Kreise der Kreativen. Da brach die bezaubernde Texterin den Bann und fand als erste wieder Worte: „Wer war’n der Typ überhaupt?“