Die Eleganz des Salatsiebprinzips

■ Dem Ingenieur ist manches zu schwör, deshalb steht er auf Leichtbau und lässt sich dabei von Alltagsgegenständen inspirieren. Bedauerlich nur, dass das luftige Tragwerk der Bremer Stadthalle zur Attrappe degradiert werden soll

Als sich um 1960 in der Architektur der so genannte plastische Stil weltweit ausbreitete, der so signifikante Bauwerke wie das Opernhaus in Sydney, aber auch die Stadthalle in Bremen hervorbrachte, da postulierte ein bekannter Architekturtheoretiker, nun hätten die Architekten wieder die Ingenieure übertrumpft – nachdem diese im 19. Jahrhundert die fortschrittlicheren Kräfte gewesen seien.

So ganz stimmte das mit der Übertrumpfung schon damals nicht. Man muss nur an Namen wie Robert Maillart, Felix Candela oder Pier Luigi Nervi erinnern, große Ingenieure, die in keiner Architekturbetrachtung der Moderne ausgelassen werden dürfen. Oder an Buckminster Fuller und Frei Otto, die wenige Jahre später die internationale Bühne betraten.

Und heute? Obwohl in den Medien meist von den Stararchitekten die Rede ist, brauchen die führenden Konstrukteure ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, denn ohne sie geht auch bei den Stars meist nichts. Gerade der gegenwärtig erkennbare Hang zur spektakulären Architektur zeigt dies. Aber auch die Tendenz, große Flächen – Stadien, Messehallen – transparent und leicht zu überspannen, stellt die Ingenieure vor große Herausforderungen.

Eines der bekanntesten Ingenieurbüros kommt aus Stuttgart und heißt Schlaich, Bergermann und Partner. Am Donnerstag stellte Michael Schlaich, Partner in diesem Büro und Sohn des Gründers Jörg Schlaich, auf Einladung des Bundes Deutscher Baumeister, Architekten und Ingenieure e.V. (BDB) im Vortragssaal der Kunsthalle das Konzept und die Schwerpunkte dieser Partnerschaft vor. Die Stuttgarter haben sich dem Leichtbau verschrieben. Diese Vorliebe hat historische Ursachen. Die beiden Gründer arbeiteten einst an der Ausführung eines für den Leichtbau bahnbrechenden Projektes: den Zeltdächern des Münchner Olympiaparks. Die Leidenschaft für diese Form des Bauens hat sie seither nicht mehr losgelassen.

Schlaichs gut strukturierter Vortrag gewährte einen Einblick in die „kleine Welt der Tragwerke“, die, auf einigen simplen Prinzipien und Elementen beruhend, sich zu einem Kosmos komplizierter Formengebilde ausweiten lässt. Die konstruktiven Grundelemente sind Druckbogen, Hängebogen und Stab. Und auch bei den architektonischen Elementen gibt es eine Entwicklungslinie der Komplexitätssteigerung: von der Linie zur Fläche zum Körper gewissermaßen – oder in Architektur ausgedrückt: Brücke, Dach, Turm. Aber natürlich alles schön leicht und transparent. Schlaichs Philosophie des Leichten spiegelt sich auch im Rückgriff auf Prinzipien aus der Welt der Alltagsgegenstände. Das Speichenrad beispielsweise, bei dem die weiche Felge durch die vorgespannten Speichen, wie wir wissen, relativ steif wird. Oder das einfache Küchensieb, das – auf einem quadratischen Maschennetz beruhend – erst durch seine doppelt gekrümmte Oberfläche zu dem uns vertrauten Gegenstand wird.

Schlaich geriet über die „Eleganz des Salatsiebprinzips“ in der Architektur regelrecht ins Schwärmen. Auch die kompliziertesten Formen, wie die heute so beliebten Blobs, lassen sich aus solch einfachen Prinzipien ableiten. Um bei freien organoiden Formen beispielsweise immer ebene Glas- oder Abdeckflächen zu erhalten, hat das Büro den so genannten Schober-Trick entwickelt. Der Spaß hört für Schlaich dort auf, wo heute durch computerunterstützte Berechnungs- und – vor allem – Produktionstechniken quasi jede Form machbar wird: „Das sind keine sauberen Tragwerke mehr“.

Mit solchen „sauberen Tragwerken“ signifikante Bauwerke zu konstruieren, ist sicherlich ein großes gemeinsames Projekt von Architekten und Ingenieuren im 20. Jahrhundert gewesen. Dass man ein solches signifikantes Bauwerk durch die Umrüstung in ein gewissermaßen „unsauberes“ Tragwerk nachhaltig entwerten kann, zeigt die Diskussion um die Umbaupläne der Bremer Stadthalle.

Bekanntlich soll das charakteristische Hängedach, das die berühmte dynamische Silhouette des Bauwerks bestimmt, infolge der hinteren Aufstockung beseitigt und durch ein banales Fachwerkträgerdach ersetzt werden. Zu glauben, die verbleibende, zur Attrappe reduzierte Vorderfront würde diese Identitätsmarke ersten Ranges – kein zweites modernes Bauwerk ist in vergleichbarer Weise stets mit Bremen verknüpft worden – retten, beruht auf der typisch postmodernen Fehlwahrnehmung, ein Bauwerk flächig und nicht räumlich zu sehen.

Aber vielleicht ist ja das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen. Dann hätte auch der Titel der BDB-Reihe, in der Schlaich auftrat, einen tieferen Sinn: „Denkanstöße“.

Eberhard Syring

Den nächsten Vortrag in der BDB-Reihe „Denkanstöße“ hält der finnische Architekt Juha Leiviskä am 13. Juni um 19 Uhr Vortragssaal der Kunsthalle