Der moderne Untergeher

DAS SCHLAGLOCH   von MICHAEL RUTSCHKY

Dies ist eine verzweiflungsvolle Geschichte aus der modernen Welt. Ohne moralische Botschaft.

16.00 Uhr – Konstantin Quast und Jutta im Laden. Er will über Kracauer schreiben. Beraten. Notizkalender-Eintrag, 24. April 1975 Wir sind imstande, das zu verlernen, was wir vorerst nicht wissen. Wir verstehen es nicht nur, die alte Welt zu zerstören, sondern wir werden es auch verstehen, eine neue aufzubauen. Wort des Vorsitzenden Mao Tse-tung, Peking 1967

Der Todesanzeige konnte man entnehmen, dass er zwei Tage vor seinem 50. Geburtstag starb. Genau!, dachte man, den wollte er keinesfalls erleben, und so machte er sich gerade noch rechtzeitig davon. Eine genau kalkulierte Schlusspointe für diese verzweifelte Geschichte.

Man vermied schon lange jeden Kontakt mit ihm. Das diente, wie die unterschiedlichsten seiner Freunde übereinstimmten, dem Selbstschutz. Man könne unmöglich zwei Nächte hintereinander über sein Leben mit ihm diskutieren: was er jetzt schreiben, wo er sich bewerben solle; oder doch in die Dramaturgie des Stadttheaters eintreten? Am Ende solcher Nächte waren alle Pläne wieder von der Tafel gewischt, und wer ihn zuletzt besuchte, konnte erzählen, dass dies Plänemachen und Auswischen am Ende immer schneller abrollte. Sogar Jutta, die ihn, wiewohl zehn Jahre jünger, wie ihren Zwilling behandelte, verzichtete aufs Postkartenschreiben und Telefonieren, auf Treffen schon gar. Eines Tages würde, wusste man, aus dem Inkommunikado heraus die gute Nachricht eintreffen: dass er doch noch die Stelle als Deutschlehrer in dem Internat am See ergattert habe. Oder aber die Todesnachricht.

Am Anfang sah die Geschichte natürlich vollkommen anders aus. Strahlend vor Ehrgeiz, Intelligenz und Energie kam er an die Universität, politischer Energie, denn als Gymnasiast gehörte er zu den Roten Garden, die Westberlin mittels der Mao-Tse-tung-Ideen revolutionieren wollten.

Das kam um 1970 bei Erstsemestern häufiger vor. Aber wie er beispielsweise das Mao-Zitat oben, über das Erlernen des noch Ungewussten, mit Adorno zu verknüpfen vermochte und Adornos ästhetische Theorie später mit Foucault und Derrida, da musste man richtig aufpassen, dass man mitkam. Denn jugendlicher Hirnschwurbel war das nicht, und es versteht sich, dass ihn die Gymnasiastenbegeisterung für die Kulturrevolution keineswegs in den lächerlichen Dogmatismus der K-Gruppen enden ließ. Dazu war er viel zu ehrgeizig.

Die Arbeit über Siegfried Kracauer nannte sein Professor außerordentlich und freute sich schon darauf, in der akademischen Welt dank dieses Schülers Ruhm zu ernten. Als wir jetzt die Todesnachricht beratschlagten, fasste es einer so zusammen: Wenn die Geschichte korrekt weitergegangen wäre, hätte das Feuilleton allüberall in der Republik einen schweren Verlust beklagt, wahrscheinlich auch ein bisschen mit dem Gedanken der frühen Vollendung herumgespielt, jedenfalls ein hoch angesehenes Mitglied der Feuilletonprominenz verabschiedet.

Am gründlichsten beratschlagten wir, versteht sich, wann und wie die Geschichte anfing schief zu laufen. Dass er das Referendariat absolvierte und kurzfristig in den Schuldienst eintrat, statt entschlossen Promotion und Habilitation zu betreiben, die akademische Karriere? Aber auch die Dissertation gelang vorzüglich, und man machte ihm Hoffnungen, sie könne die Habilitationsschrift glatt ersparen. Er war immer der geniale Schüler, sinniert Jutta, der vor Lehrpersonen brilliert. Als er selbstständig agieren sollte, blieb er stecken.

Die Frau, mit der er sich zusammentat, eine heftige Liebesgeschichte, deren Entwicklung man mit Freuden zuschaute, seine Frau war ihm in der akademischen Karriere ein paar Schritte voraus. Als sie eine Stelle in Siegen bekam, folgte er ihr nach. Wo ist das Problem? Auch in Siegen könnte er doch die Habilitation betreiben. Oder ganz andere Projekte ins Auge fassen – allmählich begannen die Gespräche über seine Pläne und Absichten quälend zu werden und dauerten ganze Nächte, die ohne Ergebnis blieben.

Zunächst versuchte er sich – während der Betrieb die Frau zu verzehren begann – an etwas Belletristik. Die Kritik reagierte gedämpft: Er wirkte intellektuell zu anspruchsvoll, und nach alter deutscher Sitte und Brauch ziert den Dichter ein bissel Blödheit. So wechselte er das Lager und begann, sehr gefördert von einer angesehenen Zeitung für Deutschland, Literaturkritik zu schreiben. Das übliche Saisongeschäft: Die Zeitung wies ihm Neuerscheinungen zu, die er ordentlich besprach; war die Liste durch, kamen neue Neuerscheinungen. Das entsprach zwar seiner Musterschülerhaftigkeit, so Jutta, aber es ließ ihn auch tief unzufrieden zurück. Also doch die Habilitation, die akademische Karriere? Wen es nach Siegen verschlug, wer die Nachtgespräche durchstand, wusste, dass allein die Form seines Nachdenkens über die Zukunft dieselbe vernichtete.

Es kam hinzu, dass die Ehe sich auflöste. Während die Frau den Betrieb glänzend zu bedienen lernte und als Kapazität die Welt der entsprechenden Kolloquien und Kongresse bereiste, saß er zu Hause mit seinen bitteren und unabschließbaren Grübeleien. Dass sie ein Kind bekäme und er den Hausmann und Vater gäbe, war mal kurz im Gespräch, aber bald verworfen. So überzog er sie, aus der Welt der internationalen Symposien zurückgekehrt, nächtens mit Tiraden über ihre wissenschaftlichen Standards und theoretischen Ansprüche, und sie musste fein stillschweigen, denn selbstverständlich war er es, der in seinen Augen Wissenschaft und Theorie längst nicht mehr entsprach. Er trank auch viel, so Jutta. Einmal hatte sie ihn schon beim Frühstück besoffen erlebt.

Am Anfang war alles anders: Strahlend vor Ehrgeiz, Intelligenz und Energie kam eran die Universität.

Die Frau folgte seinem Ruf ins Ausland, er blieb in Siegen, und allmählich zog man sich, wie gesagt, aus Selbstschutzgründen von ihm zurück. Nur noch als Hörensagen drang manchmal was von ihm herüber; dass er nun im Ernst seine Habilitation in Rostock betreibe, nein, dass er versuche, als Lehrer in einem Internat unterzukommen, die Chancen der neuen Bundesländer. Auch sollte er plötzlich erhebliches Geld haben, eine Erbschaft – das hat ihn vollends erledigt, so Jutta, jetzt war er auch noch frei vom Druck des Arbeitslebens.

Es war kein Selbstmord, wie wir erfuhren, es war ein Tumor. Dessen Wachstum er sich aber dankbar anheimgab, nein, weder Operation noch Chemotherapie, weil es ihm alle Entscheidungen abnahm. Das letzte Jahr, hieß es, sah ihn entspannt wie nie; und auch als er in vollkommener Dunkelheit versank, blieben die Dämonen still. Leider kam die Todesanzeige so kurzfristig, dass keiner seiner alten Freunde und Bewunderer dem Begräbnis beiwohnen konnte; auch Jutta nicht, zu ihrem Kummer.

Dies ist eine verzweiflungsvolle Geschichte aus der modernen Welt. Ohne moralische Botschaft, ohne hohen Sinn. Hier erstrebte niemand ein unerreichbares Ideal und scheiterte heroisch an der Wirklichkeit, kein Märtyrer opferte sein Leben einer erhabenen Sache. In der modernen Welt ist das Unglück kontingent. Die Geschichte hätte auch anders ausgehen können, und das ist kein Trost, sondern erst recht traurig.