„Betrüger oder Faschist?“

Auch die Franzosen in Berlin sind über den Wahlerfolg des Rechtspopulisten Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen empört. Sie haben mehrheitlich sozialistisch gewählt. Heute Abend wollen sie auf dem Bebelplatz demonstrieren

Die halbe Nacht hat Remi Dantin vor dem Fernseher gesessen und TV 5, den frankophonen Auslandssender, geguckt. Zu Hause in Paris protestierten in der Nacht zum Dienstag rund 10.000 Aufgebrachte gegen die „Front National“ und ihre Politik. „Ich musste fast kotzen“, sagt Dantin, so sehr hat ihn der 17-Prozent-Erfolg des französischen Rechtsaußen Le Pen aufgeregt.

Der in Berlin lebende französiche Journalist ist empört. Spontan hat er sich einer ebenso spontan gefassten Idee einiger Berlin-Franzosen angeschlossen. Für den Studenten Guillaume Prunier war gleich am Wahlabend klar, dass es eine öffentliche Demonstration geben müsse. „Wir waren total geschockt,“ erzählt Prunier.

Als am Sonntagabend kurz nach 20 Uhr die ersten Hochrechnungen übertragen wurden, blieb den Versammelten im Maison de France am Ku’damm das Essen buchstäblich im Halse stecken. Denn die 1.770 französischen WählerInnen Berlins hatten mit großer Mehrheit, insgesamt 562 Stimmen, für Jospin gestimmt. Nur 48 hatten ihre Stimme dem Rechtspopulisten Le Pen gegeben. Nachdem klar war, dass der Sozialist und amtierende Ministerpräsident Lionel Jospin verloren hatte, rührte keiner der Versammelten mehr das Buffet an, einige kämpften mit den Tränen. „Uns bleibt am 5. Mai bei der Stichwahl nur die Wahl zwischen Chirac und Le Pen, das sind Pest oder Cholera“, regt sich Prunier auf. Drastischer formulierte es ein anderer: „Wir dürfen jetzt zwischen einem Faschisten und einem Betrüger wählen.“ Selbst das Konsulatspersonal, von Amts wegen zu politischer Neutralität verpflichtet, konnte seine Bestürzung nicht verbergen, erzählt Dantin. Ein Mitarbeiter soll sogar den Demoaufruf an einen Fernsehsender weitergeleitet haben.

Wer in Berlin Le Pen gewählt hat, wissen die Initiatoren nicht, „das ist ein Tabu“. Dass hier Jospin selbst im ersten Wahlgang der meistgewählte Kandidat war, wundert die Demomacher keineswegs. „Wenn man im Ausland lebt, hat man doch einen anderen Blick auf Frankreich“, meinen sie. „Es ist einfach peinlich“ resümiert Dantin. „Wir haben jahrelang den Deutschen und dem Nahen Osten die Leviten gelesen, jetzt wählen wir selbst die Rechtsextremisten.“ Es sei daher höchste Zeit, zu handeln, meinen die Organisatoren.

Sie haben für heute Abend eine Kundgebung angemeldet. Auf dem Bebelplatz, „weil der mit den Autodafés von 1933 schon traurige Berühmtheit erlangt hat“, erläutert Dantin. Motto der Demonstration: „Nein zu Le Pen und der extremen Rechten“. Die blamable Niederlage Jospins erklären sich auch die Spree-Franzosen mit der verpatzten Wahlkampagne des kaum massentauglichen Sozialisten. Er habe einfach zu wenig auf das Thema „Innere Sicherheit“ gesetzt, erklärt ein empörter Jospin-Wähler. Zwar wird in der französischen Communauté in diesen Tagen heftig hin und her gemailt, protestiert und telefoniert. Ob es aber viele Teilnehmer werden, kann Prunier nicht sagen. Für ihn zählt jeder, der kommt, denn „je suis vraiment embêté“. Und er ist wirklich sauer! ADRIENNE WOLTERSDORF

19 Uhr Demonstration „Nein zu Le Pen und der extremen Rechten“, Bebelplatz, Unter den Linden