Vergessen, aber nicht vergeben

Sierra Leone bekommt bald ein Kriegsverbrechertribunal, aber die Opfer sprechen ungern über die Vergangenheit

FREETOWN taz ■ Im Schatten eines riesigen Mangobaumes webt ein Mann einen grauen Teppich. Er bedient den Webstuhl mit einer Hand. Er hat nur eine. Zur Unterstützung benutzt er seine Zähne. Die ältere Frau, die zuschaut, hat zwar beide Arme, aber einer baumelt lahm neben ihrem Körper. „Rebellen versuchten mit einem Buschmesser meinen Arm abzuhacken,“ erzählt die 53-jährige Sirama Sari. „Ich blutete stark, aber konnte fliehen. Tagelang versteckte ich mich. Dann brachte mich jemand ins Krankenhaus. Die Wunde wurde versorgt, aber Sehnen und Nerven sind durchgeschnitten.“ Während sie ihre Geschichte erzählt, schaut sie dem Weber zu. Geschickt wickelt sie mit ihrer gesunden Hand ein Tuch um ihren Rock als Schutz gegen den roten Staub.

Rebellen der RUF (Revolutionäre Vereinigte Front) töteten ihr ältesten Sohn. Die anderen Kinder wurden entführt. Die Mutter hat keine Ahnung wo sie stecken. Seit dem Angriff wohnt Sirama Sari in Grafton, einer Auffangstelle für vertriebene Kriegsverwundete in den Hügeln bei Freetown, der Hauptstadt Sierra Leones.

Letztes Jahr wurde der zehnjährige Bürgerkrieg in Sierra Leone beendet. Die RUF-Rebellen von Foday Sankoh hatten Zivilisten Glieder und Nasen abgehackt und die Augen ausgestochen. Nun soll ein von der UNO unterstütztes Tribunal die schlimmsten Gewalttaten ahnden. Der Gerichtshof wird nach einer Mischung aus einheimischem und internationalem Recht arbeiten. „Wenn der Präsident das will, ist es gut“, findet Sirama. „Wenn er mich bittet, zu verzeihen, tue ich das.“

Zwanzig Kilometer weiter, in der Nähe der weißen Strände von Freetown, erklingt Rapmusik. In einem Haus ist das Durchgangszentrum für junge ehemalige RUF-Kämpfer. Nach ihrer Entwaffnung durch UN-Truppen bereiten sie sich auf die Rückkehr in die Gesellschaft vor. Einer von ihnen ist der 15-jährige Mohamed. Er wurde vor sechs Jahren auf dem Schulweg von der RUF entführt. Gehirnwäsche und Drogen machten ihn zum willigen Killer. Jetzt wartet er darauf, zu seiner Familie zurückzukehren.

Um seinen linken Oberarm trägt er eine weiße Binde. Ihm wurde eine Tätowierung entfernt – ein Skorpion, das Zeichen seines Bataillons. „Die Tätowierung hielt mich vom Fliehen ab. Es war eine Art von Brandmal“, erklärt der Junge. „Jetzt muss alles weg, was mit dem Krieg zusammenhängt. Der Krieg ist vorbei.“ Den RUF-Kindersoldaten fällt es schwer, über die Vergangenheit zu sprechen. Mohamed richtet sich lieber auf die Zukunft. Er will Automechaniker werden. „Ich war nur wenig an den Kämpfen beteiligt“, behauptet er. „Ich arbeitete für die Frau des Kommandanten. Aber manchmal musste ich mich verteidigen. Ab und zu denke ich an die Vergangenheit, das ist unangenehm. Keiner hat bis jetzt auf mich mit dem Finger gezeigt, und ich bin sicher, das meine Familie sich freut, wenn wir uns wiedersehen.“

Corinne Dufka von der Menschenrechtenorganisation Human Rights Watch vermutet, dass Reue und Hass in Sierra Leone fehlen, weil dort Staflosigkeit seit Jahren normal ist. „Polizei und Armee taten, was sie wollten, die Bevölkerung war machtlos. Jetzt verdrängt sie die in ihren Augen nutzlosen Gefühle.“

Seit über drei Jahren wohnt die US-Menschenrechtsaktivistin in Sierra Leone. Krieg und Frieden hat sie erlebt. Der Gerichtshof wird eine heilende Wirkung haben, meint sie. „Die Bevölkerung bekommt dadurch wieder Vertrauen in die Rechtsprechung. Sie sieht, dass Verbrechen nicht unbestraft bleiben.“ Die UN-Finanzierung dauert nur drei Jahre. Niemand will eine Wiederhohlung des Tribunals für Ruanda, dessen Verfahren sich seit Jahren hinziehen. In Sierra Leone sollen prominente Kriegsverbrecher abgeurteilt werden. RUF-Führer, die Exmilitärregierung, die Regierungsarmee und diverse Milizen werden untersucht, auch eine Wahrheitskommission wie in Südafrika ist geplant. ILONA EVELEENS