Das Begehren im Chatroom

Scheitern auf Japanisch: Mit „All About Lily Chou Chou“ von Shunji Iwai eröffnet heute das Panorama sein Programm. Die Freundschaft zwischen den Jungen Yuichi und Hoshino dient als Chiffre für den Zustand der japanischen Jugend

Die Adoleszenz ist ein Epos. Zweieinhalb Stunden nimmt sich der japanische Regisseur Shunji Iwai für „All About Lily Chou Chou“: Das ist viel Zeit für die Schilderung profanen jugendlichen Lebens in der japanischen Provinz. Aber Iwai benötigt sie, weil sein Projekt nicht einfach nur das einer vereinzelten juvenilen Selbstfindung ist. Iwai versucht, die etwas zu groß geratene Geschichte all der kleinen persönlichen Katastrophen zu schreiben, und verknüpft dabei die einzelnen Teenager- und Erwachsenen-Biografien zu einer fulminanten Erzählung über das japanische Scheitern.

In „All About Lily Chou Chou“ findet der soziale Druck keine Kompensation mehr. Äußere Gewalt und innere Zwänge sind die Chiffren dieses schleichenden Unschuldsverlusts, der sich auch in der Zeichenfluktuation im virtuellen Chatroom vermittelt. Hier kommen die überbordenden Gefühlsfluten erst langsam zu einer vagen Sprache. Der Chatroom wird nicht nur zum Katalysator der „Teenage Angst“, sondern fungiert über lange Zeit auch als ihr Korrektiv.

Tagtäglich sitzen die Jugendlichen vor dem Computermonitor in ihrer selbst geschaffenen Parallelwelt und unterhalten sich über die Überprojektion ihres unerforschten Begehrens: über die Sängerin Lily Chou Chou, das eher auratische denn reale Geschöpf einer esoterischen Pop-Fantasie. Lily Chou Chous Songs haben Titel wie „Abyss of Loneliness“, „Wings that can’t fly“ oder „Wounds that Heal“.

Der esoterische Mystizismus, den sie verkörpert, liefert den Kids immerhin ein Identifikationsmodell. Ihre Gespräche zeugen von einem seltsamen Spezialistenwissen, das sich für Außenstehende so wenig erschließt wie eine Geheimsprache. Aber der Code verschafft ihnen kurzzeitig etwas Sicherheit. Manchmal ziehen sie durch die Plattenläden und verhökern geklaute CDs. Ihre Mütter sitzen derweil beim Friseur und erzählen, was für wohl geratene Kinder sie doch haben.

Der Online-Chat liefert den pathologischen Subtext von „All About Lily Chou Chou“. Im Skript dieses permanent durchratternden „Stream of Consciousness“ versucht Iwai seine Figuren zu erzählen. Vor allem aber sorgt der Textfluss in den Momenten für Konkretion, in denen der Regisseur sich mit seinen Bildern in verkitschte Poesie zurückzuziehen versucht.

In seinem letzten in Deutschland gezeigten Film „Yentown – Swallowtail Butterfly“ kokettierte Iwai mit seinen surreal-slapstickhaften Rückzugsgesten. In „All About Lily Chou Chou“ bleiben seine traumatischen Gegenentwürfe dafür manchmal isoliert wie kleine Enklaven der Verstörung, an denen das Leben vorbeirauscht.

Dabei hat Iwai die Marken des Schreckens längst ausgemacht: Immer wieder landet er bei seiner Suche an den signifikanten Orten sozialer Institutionalisierung, in exemplarischen Machtkonstellationen. Die Schemata sind sich ähnlich, die Unterdrückungsmechanismen ein ständiges Déjá-vu: in der Schule, in der Familie, in der Freizeit. Die äußere Gewalt wird verinnerlicht und schafft sich so neue Strukturen: zum Beispiel im Kendo-Unterricht an der Schule – im japanischen Klassendenken ein Modellfall, an dem gesellschaftliche Klassifizierung in elitaristischer Härte vorpraktiziert wird (in „All About Lily Chou Chou“ übertragen die Mädchen dasselbe Modell dann sehr viel psychologischer auf ihre Musikklasse).

Die Freundschaft zwischen Yuichi, der die Fan-Website „Lilyphilia“ betreut, und Hoshino, einem schüchternen Streber, dient Iwai als Chiffre für den Zustand der japanischen Jugend und ihrer sozialen Degeneration. Der Gesellschaftsroman neigt bekanntlich zu Verallgemeinerungen bzw. Schematisierungen – ganz im Gegensatz zur Erzählung der Adoloszenz. Iwai schafft mit seinen wenigen Figuren ein größtmöglich komplexes Geflecht von Abhängigkeiten – und folglich auch Differenzierungen. Dass nicht jedes seiner Bilder nach einer Interpretation schreit, weiß man seit „Yentown“. Aber auch in „All about Lily Chou Chou“ finden sich Bilder von schockierender Prägnanz. Fast scheint es, als würde sich die Jugend für ein Leben in den Filmen Takeshi Kitanos wappnen.

ANDREAS BUSCHE

„All About Lily Chou Chou“. Regie: Shunji Iwai. Mit Shugo Oshinari, Ayumi Ito. Japanisch, 146 Min.