Ein letztes Nachdenken

Rund hundert Berliner Taxifahrer zogen gestern in einem Korso durch die Stadt. Sie trauern um ihren ermordeten Kollegen Carlos Alberto Heinz. Überfälle gehören für die Fahrer fast schon zum Alltag

von WALTRAUD SCHWAB

Frierend stehen die Taxifahrer in der Januarkälte um ihre Droschken herum. Kragen hochgeschlagen, Hände in den Jackentaschen vergraben. Der Anlass ist traurig. Einer von ihnen wurde ermordet. Carlos Alberto Heinz, 37 Jahre war er alt. Mit einem Taxenkorso wollen ihm die Kollegen die letzte Ehre erweisen. Vom Ernst-Reuter-Platz aus quer durch die Stadt.

Hundert Taxen, so wird geschätzt, beteiligen sich an dem Zug. „100 von 7.000 in Berlin“, sagt Ruth Singer, „das mit der Solidarität ist nicht mehr wie früher“. Sie selbst war bei jedem Trauerkorso dabei. Das sei sie den Ermordeten schuldig, „weil jeder einer unter gleichen ist.“ Wegen dieser „Nachdenklichkeit“ fährt sie mit.

Seit 29 Jahren gehört Singer zum Fuhrgewerbe. Selbstständig, der Benz, in dem sie sitzt, ist ihrer. Vom Auto ist es nicht weit zu den Geschichten aus dem langen Taxileben. Heute erzählt sie die traurigste. Jene, in der Aggression den Ton angibt: Der bewaffnete Überfall bei der letzten Fahrt am letzten Tag vor ihrem Urlaub. Drei Jahre ist das her.

„Fünf Jahre hat er gekriegt, aber wegen guter Führung kommt er nun raus. Der war doch noch so jung.“ Angst dürfe man nicht haben, meint sie. Wie bei Hunden. Wer vor denen zaudert, hat verloren. Sie hat dem Jungen damals das Geld gegeben. „Was sind 100 Mark gegen ein Leben.“

Zorn in der Stimme

Zwei Taxifahrer wurde im letzten Jahr in Berlin ermordet. Bundesweit waren es zwölf. Die Todesumstände von Carlos A. Heinz sind bis heute unklar. Mitte Dezember wurde die Leiche des 37-jährigen mit Schuss- und Stichverletzungen in einem Waldstück bei Börnicke im Landkreis Barnim entdeckt. Vermutet wird, dass sein letzter Gast, ein 22-Jähriger, der Täter ist. Wie es genau war, wird jedoch möglicherweise niemals herauszufinden sein. Denn der 22-Jährige ist selbst tot. Er fuhr das Taxi zuletzt und hatte damit bei überhöhter Geschwindigkeit vermutlich einen Wildunfall.

„Wendekinder“, stöhnt ein Kollege des Ermordeten, der mit anderen Fahrern in der Kälte steht und darauf wartet, dass die traurige Fahrt beginnt. Für ihn ist der 22-jährige so einer. Haltlos seien diese Kids. Ihr Motto: Gewalt, Geschwindigkeit, Wahnsinn. Zum Schönreden gebe es da nichts mehr.

Um sich zu trösten, erinnern sich die Taxifahrer gegenseitig daran, dass jeder Bankangestellte, jeder Kioskbesitzer gefährlicher lebe. Aber ein Trauerzug ist immer auch ein Wutzug. „Ich habe es mir abgewöhnt, mich mit Scheißkerlen anzulegen. Auf Märtyrerspiele habe ich keine Lust“, sagt einer. Der Zorn in seiner Stimme gibt ihm recht. „Ich bin froh, dass der Typ wenigstens umgekommen ist.“

Wolfgang Wruck von der Innung der Berliner Taxifahrer kann seine Leute verstehen. „Die Tätigkeit wird immer schwieriger“, sagt er. „Die Umgekommenen sind für uns nur der Gipfel. Niemand berichtet mehr über die ein bis zwei Überfälle, die wir sonst pro Woche haben.“ Alle hier wissen, wovon er spricht. „Aber getan wird von den Oberen doch auch nichts“, so der Tenor der Fahrer. Dann zieht die beigefarbene Autoschlange los. Ein Wagen hinter dem anderen und jeder Fahrer für sich.

Blutflecken im Auto

Für Monika Treimel ist es der erste Korso zum letzten Geleit. Die frühere Floristin ist erst seit fünf Jahren dabei. Sie musste sich umschulen lassen. „Fahrlehrer“, wollte sie werden, aber da hat das Arbeitsamt „nein“ gesagt. Wohl aber finanzierte es der Ostberlinerin eine Ausbildung zum „Stadtbilderklärer, Dispatcher, Taxifahrer“. Die 47-Jährige mit blonder Dauerwelle ist eine patente Frau. Ein Jahr hat sie gebraucht, um die Stadt in den Griff zu bekommen, erzählt sie. Der Anlass allerdings lenkt auch ihre Gedanken auf die Schattenseiten. Immerhin hat sie in dem Taxi, mit dem sie heute fährt, schon Blutflecken weggeputzt. Einem Nachtfahrer war bei einem Überfall ein Messer in den Bauch gerammt worden. Sie selbst hat mal einen, der ihr blöd kam, durch eine Vollbremsung so ins Schleudern gebracht, dass er gerne das Auto verließ. Er war nicht angeschnallt. Während des Trauerzugs ereilt sie mitten auf der Reichsstraße ein neuer Schlag. Ihr Mann wurde mit Armbruch ins Krankenhaus eingeliefert. „Der Alltag holt dich immer ein.“

Die Trauerfeier für Carlos Heinz findet im Krematorium Ruhleben statt. Der Name des Ortes verspricht so viel Hoffnung auf Wiederkehr. Ein bescheidener Trost für die katholischen Angehörigen. „Carlos war Fotograf und Taxifahrer. Ein chaotischer, intelligenter Mensch. Seine Liebe galt Kuba und der Welt der Wunder“, erzählt der spanische Padre bei der Trauerfeier in hart akzentuiertem Deutsch.