„Total ein Klischee“

Gespräch mit Handballer Stefan Kretzschmar (28) über Tätowierungen, Schubladen, in die man ihn steckt, die Stadt Magdeburg und Weihnachten

Interview FRANK KETTERER

taz: Herr Kretzschmar, wie feiert ein Handball-Punk Heiligabend?

Stefan Kretzschmar: Total traditionell, im Kreis der Familie. Da wird dann ein bisschen zusammengesessen und gequatscht. Das ist immer ganz easy.

Werden auch Weihnachtslieder gesungen, Stille Nacht und so?

Nee. Das sind ja schon wieder Auswüchse. Also gesungen wurde bei uns nie.

Aber beschert wird doch bestimmt.

Das schon. Aber das läuft mehr oder weniger nach dem Schema: Man überreicht die Geschenke, man packt sie aus, und man freut sich darüber – oder auch nicht.

Was haben Sie sich in diesem Jahr gewünscht?

Wir wünschen uns nichts. Durch meinen Vertrag mit Nike beschere ich meine ganze Familie immer mit Jogginganzügen und Pullovern. Seit fünf Jahren decke ich die damit nun schon ein.

Das klingt alles in allem ja recht bürgerlich und gar nicht so furchtbar punkig. Sind Sie am Ende gar nicht so wild, wie Sie aussehen?

Sicher. Die Sache mit dem Handball-Punk ist doch total ein Klischee und eigentlich eine Katastrophe. Es ist in Deutschland einfach so, dass es eine Schublade geben muss, in die man einen reinsteckt und bei Bedarf wieder rausholt. Und in einer dieser Schubladen stecke eben ich, der Handball-Punk. Dabei hat das, was ich in meinem Leben mache, mit Punk nichts mehr zu tun. Das ist eine Geschichte, die die Medien mal aufgrund meines Aussehens erfunden haben.

Ohnehin sind Sie in der DDR eher konventionell aufgewachsen, mit FDJ und Pionieren und so. Gab es einen Punkt, an dem Sie sich ganz bewusst dazu entschlossen haben, nicht mehr so zu sein wie all die anderen?

Nein. Es ging mir ja nie darum, gegen die Masse zu sein. Dass ich mich verändert habe, auch äußerlich, kam eher durch meinen Freundeskreis. Da ist es einfach alles andere als unnormal, so auszusehen und so rumzulaufen.

Ihr erste Tätowierung aber kann man schon an einem Ereignis festmachen: Als es mit Ihrer ersten großen Liebe auseinander ging, haben Sie sich einen Totenkopf in den Oberarm ritzen lassen.

Die Trennung war sehr schmerzvoll, und deshalb wollte ich etwas machen, was für ewig hält, damit ich mich immer daran erinnere. Hinzu kam, dass ich zu jener Zeit in Berlin über einem Tätowierstudio gewohnt habe und jeden Tag daran vorbeigelaufen bin. Da war ich einfach irgendwann mal fällig, ich habe wohl nur noch auf den richtigen Anlass gewartet. Und wenn man damit erst einmal anfängt, ist es oft so, dass man nicht mehr aufhören kann. So ist es jedenfalls bei mir.

Eine andere Zäsur in Ihrem Leben war, als ein Freund von Ihnen in Berlin von Skinheads totgeprügelt wurde.

Das hat meine Denkweise gegenüber Gewalt total verändert. Dabei war das eine Prügelei mit Rechten, wie sie zu der Zeit häufiger vorkam, und noch nicht einmal übertrieben aggressiv. Aber es gab dabei diesen einen Schlag, der meinem Freund die Niere zerrissen hat. Daran ist er gestorben.

Wie sehr hat dieses Erlebnis Sie geprägt?

Seither habe ich nie mehr eine solche Art von Gewalt praktiziert oder mich überhaupt nur in die Nähe davon drängen lassen. Ich lasse mich erst gar nicht mehr so provozieren, dass ich anfangen könnte zu prügeln. Deshalb habe ich mich aus dieser Szene von damals auch immer mehr zurückgezogen und bin in den Sport geflüchtet.

Sie haben damals gesagt, Sie würden Deutschland für diesen Tag hassen.

Ja, so habe ich auch gefühlt. Heute aber weiß ich, dass man so etwas nicht pauschalisieren darf: Man kann nicht ganz Deutschland für eine Tat hassen, die eine Gruppe von Typen begangen hat.

Noch ein Kretzschmar-Zitat zu diesem Land: „Es ist die Mentalität, die ich nicht verstehe.“ Was befremdet Sie so?

Es fehlt eine Art von Herzlichkeit, wie ich sie in anderen Ländern, zum Beispiel in Kuba, schon erlebt habe. Der Kontakt unter den Menschen wird nicht mehr so gepflegt wie früher. Und man geht mit seinen Freundschaften nicht mehr so behutsam um wie einst, sondern orientiert sich mehr an materiellen Dingen und an Statussymbolen. Deutschland ist wirklich extrem materialistisch. Das geht mir ungeheuer auf den Sender.

Handball-Punk, Paradiesvogel, Bürgerschreck, Pop-Ikone – es gibt unglaublich viele Bezeichnungen für den Handballspieler Stefan Kretzschmar. Welche hat Ihnen bisher am besten gefallen?

Keine. Wenn man versucht, mich mit einem Begriff zu beschreiben, liegt man immer falsch. Das geht einfach nicht.

Welche war die fieseste?

Das war irgend etwas mit Drogen. Junkie oder so, ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern.

Wie sehr ärgern Sie sich über so was?

Lügen ärgern mich immens. Da bin ich auch extrem nachtragend und werde das auch nicht vergessen. Ich lese prinzipiell alles, was über mich geschrieben wird – und merke mir bei besonderen Dingen auch die Journalisten dazu. Da man sich im Leben immer zweimal sieht, hat, wer so etwas schreibt, beim nächsten Mal ein Problem mit mir.

Wie viel an Stefan Kretzschmar, wie man ihn in der Öffentlichkeit kennt, ist echt, wie viel Inszenierung?

Mein Aussehen ist auf jeden Fall zu 100 Prozent echt, da ist kein Tattoo und kein Piercing zu viel –das bin alles ich. Wie ich mich aber in den Medien zu Dingen äußere, gerade im Fernsehen, das bin zu 50 Prozent manchmal nicht ich. Da steckt dann schon auch mal Provokation hinter.

Und dabei kann es dann vorkommen, dass Sie bei Harald Schmidt über Ihre jetzige Heimatstadt Magdeburg ablästern.

Nee, überhaupt nicht, auf das Thema reagiere ich mittlerweile äußerst allergisch. Ich habe zwar über den Bürgermeister einen Witz gemacht, den in Magdeburger keiner verstanden hat, aber über die Stadt würde ich mich nie negativ äußern und habe das auch in der Sendung nicht getan. Ich habe lediglich versucht, ein paar Probleme, die es in Magdeburg gibt, anzusprechen. Es liegen hier so viele Dinge im Argen – und ich habe in dieser Stadt so ziemlich als Einziger die Möglichkeit, das auch mal in den Medien zu äußern.

Bei den Magdeburgern kam das offensichtlich nicht so gut an.

Leider. Und nicht zuletzt, weil es von der hiesigen Zeitung so forciert wurde. Die meisten Leute haben die Sendung gar nicht gesehen, aber von der Zeitung wurde anschließend eine Riesenkampagne gestartet. Und das, weil irgendein Oberstudienstadtrat einen zwei Seiten langen Brief verfasst hat, den die abgedruckt haben – wohl gemerkt, ohne die Sendung vorher selbst gesehen zu haben. Erst aufgrund des Briefes ist die Sache eskaliert.

Wir sehr wünschen Sie sich in solchen Momenten, nicht ganz so prominent zu sein?

Das wünsche ich mir nicht nur in solchen Momenten manchmal sehr. Es gibt sehr viele angenehme Dinge, das will ich nicht leugnen, aber dagegen steht, dass man sich einfach nicht mehr so richtig frei bewegen kann, weil man ständig beobachtet wird. Als prominenter Sportler kann man nicht einfach mal so Party machen.

Andererseits ist es ein Glücksfall, dass ein Handballer überhaupt eine solche Popularität erreicht.

Ich denke auch, dass meine Popularität gut für den Handball ist. Und weil ich diesen Sport mit Leib und Seele liebe, versuche ich das auch zu forcieren, eben um Handball mehr in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken.

Bisher stehen Sie damit ziemlich einsam da.

Stimmt. Und ich hoffe nur, dass bald mal jemand mitmacht. Allein habe ich bald keinen Bock mehr drauf. Wenn du immer nur der Einzige bist, geht dir das irgendwann auf den Sack. Und was das Komische ist: Es geht auch den anderen auf den Sack, dass immer nur ich in der Öffentlichkeit stehe. Wenn die anderen aber nach einem Interview gefragt werden, sagen die nur: Ach nee, mach mal mit Kretzsche, der macht das so gern. Die haben oftmals nicht kapiert, wie wichtig es für unseren Sport ist, mit den Medien zu kommunizieren.

Welchen Stellenwert nimmt Handball in Ihrem Leben ein?

Das hat sich in den letzten Jahren ein bisschen verschoben. Wenn es vor ein paar Jahren 90 oder sogar 100 Prozent waren, sind es jetzt mental vielleicht noch 50 bis 60 Prozent. Ich kann einfach nicht mehr sagen, dass Handball das Allerwichtigste in meinem Leben ist. Man lernt mit der Zeit einfach, dass es Wichtigeres gibt.

Ist das Altersweisheit?

Irgendwie schon. Wenn man zehn Jahre in der Bundesliga spielt und dabei einiges gewonnen hat, dann kann man beruhigt zurückblicken und muss nicht befürchten, als Loser abtreten zu müssen. Das macht relaxter und lässt andere Dinge in den Vordergrund rücken, vor allem private.

Wie wichtig ist es Ihnen, deutscher Meister zu sein?

Unheimlich wichtig. Dafür habe ich Jahre gearbeitet, nur für diesen Moment. Für mich ist das der größte Titel, den man gewinnen kann, noch größer als Europapokal oder sonst was. Deutscher Meister, das ist der Hammer.

Mal andersrum: Wie lange haben Sie daran zu knabbern, wenn ausgerechnet ein Wurf von Ihnen an den Pfosten geht und dies das Aus der deutschen Mannschaft und ihrer Medaillenträume bei Olympia bedeutet?

Das war der bitterste Moment meines Lebens, und das wird mich bis an mein Lebensende verfolgen. Andererseits übt man genau für diese Situation seinen Sport aus. Als Kind habe ich immer davon geträumt: Großes Finale, und Kretzschmar hat den letzten Wurf. Nur ging er da immer rein.

Wie hat sich Ihre Ausnahmestellung, auch durch Ihr Äußeres, auf Ihre Karriere ausgewirkt?

Ich musste immer etwas mehr bringen als die anderen. Das ist auch heute noch so. Während man sich bei einem normalen Linksaußen mit zwei, drei Toren zufrieden gibt, ist das bei mir nicht der Fall. Mit drei, vier Toren habe ich schon schlecht gespielt. Ich musste immer mehr Disziplin bringen – und wenn es mit der Disziplin mal nicht so besonders lief, dann wurde ich besonders dafür angeschissen. Da kam mir nicht besonders zugute, dass ich anders aussah.

Herr Kretzschmar, der „Spiegel“ hat sie mal den „Albtraum aller Schwiegermütter“ genannt. Was hat Franziska van Almsicks Mutter gesagt, als Sie von Ihrer Beziehung erfahren hat?

Die war sehr angetan, noch bevor sie mich persönlich kennengelernt hat. Die ist ja auch echt ne coole Mutter und selber tätowiert. Da lagen wir von Anfang an auf der gleichen Wellenlänge.

Auch Ihre Lebensgefährtin Franziska van Almsick hat ja schon so ihre Erfahrungen mit der Öffentlichkeit gemacht. Wie sehr tauschen Sie sich darüber aus?

Sehr. Vor allem bei Olympia in Sydney hat uns das unheimlich geholfen. Da hat sie ja noch mehr auf die Fresse gekriegt als ich, mit dieser Franzi- van-Speck-Geschichte und so. Man hat sie da ja quasi alleine für den Misserfolg der deutschen Schwimmer verantwortlich gemacht. Da hilft es schon, wenn man mit jemandem reden kann, der diese Situation aus eigener Erfahrung kennt.

Geteiltes Leid ist halbes Leid?

Das trifft absolut zu. Wie wir überhaupt alles teilen. Das mit Franz und mir ist ne ziemlich große Geschichte, das ist perfekt. Ich habe meine Frau ja nicht aus einer Laune heraus verlassen.

Was schenken Sie Franziska zu Weihnachten?

Das kann ich hier nicht verraten. Franz liest nämlich die taz.