Die Welt, sie tanzt in Bremerhaven

■ Stierkampfposen, Bantu-Tänze, Cha-Cha-Cha: Die Stadthalle BHV erglühte am Wochendende von den Rhythmen der Tänze dieser Erde. Den Pokal der Meisterschaften im Formationstanz trugen dann doch nicht die Litauer davon

Das wichtigste zuerst: Es gibt überhaupt nichts Neues zu berichten. Herr Youzas Leksandravicius aus Litauen kann sich nämlich nicht durchsetzen. Und auch seine Wertungsrichterkollegin Larisa Kuznetsova bleibt mit ihm in der Minderheit. Die beiden votieren für Kleipéda. Die anderen fünf aber, Alois Dvorák aus Tschechien, Manfred Ganster aus Deutschland, Anne Lingard aus England, János Mihály aus Ungarn und Linda Wakefield aus den USA, votieren wie fast immer. Sie votieren im Gekreisch von 5.000 enthusiasmierten BremerhavenerInnen bei den Weltmeisterschaften der Formationen Latein erneut für die TSG!

Die TSG Bremerhaven ist sozusagen der FC Bayern München des ganzen Nordens. Die Worte Rekordmeister, Sportlegende oder Spitzenteam wären für die Tanzsportgemeinschaft Bremerhaven die reinste Untertreibung. Denn der vor gut 30 Jahren von der Tänzer- und Tanzlehrerfamilie Beer gegründete Club hat seither alles abgeräumt, was man so abräumen kann, (Staubsauger, Farbfernseher, elektrische Apfelsinenpresse, ... und das Fragezeichen .... sowie) 18 Deutsche Meisterschaften, 9 Europameisterschaften und seit Samstagabend 13 Weltmeisterschaften hat allein die erfolgreichste Abteilung der Tanzsportgemeinschaft gewonnen: die TSG A-Formation, Latein.

Wimpern bis zu den Augenbrauen

Bei diesem Sport bewegen sich die acht Paare einer Formation so simultan wie möglich zur Musik. Anders als bei den KollegInnen vom Standard mit den Tänzen langsamer und Wiener Walzer, Slow Foxtrott, Quickstep und Tango geht es hier, wie es in Programmheften oft heißt, noch temperamentvoller und (hoho!) „südländischer“ zu. Die „glühende“ Samba, die, wie es in aller Unschuld im Pressetext heißt, auf „uralten Kreistänzen der Bantu-Neger Brasiliens“ basiert, die „erotische“ Rumba, der „kokette“ Cha-Cha-Cha, der „feurige“ Paso Doble und der „vitale“ Jive werden beim Formationstanz zu einer Mixtur. Eine Mixtur, in der die schnellen Wechsel der Takte und Tänze zur Wertung gehören: Wer auf den ersten Rumba-Takt noch in der Stierkämpferpose des Paso Doble erwischt wird, wird abgestraft.

So viel Feuer hat Einfluss auf das Wesen. Manchmal trifft man sie zwischen Geeste und Ochtum, die A-Formation Latein der TSG Bremerhaven. Das geschieht zum Beispiel am Bremer Flughafen, wenn das Team wieder zu einem Turnier aufbricht. Freude strahlende und selbst bei schlechter Laune extrovertiert missmutige junge Menschen sind das. Frauen und Männer gebräunt von der Sonne Bremerhavens. Bis zu den Augenbrauen reichende künstliche Wimpern gehören bei den Frauen zur Berufskleidung wie die stolze Haltung bei den Männern. ¡Ole! und Hossa! Doch jetzt ist Samstag, und die 10.000 Augenpaare von 5.000 enthusiasmierten BremerhavenerInnen nebst aus Bremen, Hamburg, Herford und dem Land Wursten angereisten SchlachtenbummlerInnen fragen gebannt: Wird es die TSG auch diesmal schaffen? Und: Was haben die Trainerin Skaisté Idzeleviciené und ihre Formation von der Universität Klaipéda diesmal ausgeheckt?

Konkurrenz aus dem Schlagloch

Klaipéda liegt in Litauen an der kurischen Nehrung und ist der wichtigste Fährhafen des Landes. Es regnet oft dort. Die Zöllner am Hafen haben viel Zeit zur sorgfältigen Kontrolle von Pässen und Gepäck. Eine lange Straße führt vom Hafen in einem weiten Bogen in die Stadt. Schlaglöcher so groß und tief wie in Buster-Keaton-Filmen sorgen für Aufregung. Manchmal fehlt auch ein Gullideckel. Dann schreien die Touristen aus dem Westen in ihren Autos. Von hier geht's ins Baltikum, von hier stammt auch die einzige Konkurrenz aus dem Ausland, die es zurzeit mit der TSG Bremerhaven aufnehmen kann. Sie hat in der Vorrunde die Startnummer 13 – bald nach der TSG selbst und bald nach der Formation aus Aachen, der Hauptkonkurrentin aus Deutschland im Dreikampf der Titanen des Formationstanzes der Klasse A Latein.

Solch ein WM-Formationsturnier ist eine Marathonveranstaltung. Nach mehr als zwanzig Jahren findet es endlich wieder in Bremerhaven statt (wo es oft regnet und eine lange Straße vom Hafen in einem weiten Bogen in die Stadt führt). Die Stadthalle ist seit einem Jahr ausverkauft. Zwanzig Clubs aus 13 Ländern tanzen um den Einzug in die Zwischenrunde. Alle Macht den Wertungsrichtern. Den Augen der meistens früher selbst aktiven TänzerInnen entgeht nichts. Die nicht ganz in perfekter Linie über das Parkett getanzte Diagonale nicht, und auch nicht das Scheitern der Frauen an den rasend schnell auf der Stelle gedrehten Pirouetten. Dramen spielen sich ab. Da, ein Sturz! Und wenig später ein Sturzbach von Tränen einer jungen Polin, der sich beim Herausgehen nicht mehr zurückhalten lässt. Und da, eine Perücke rutscht herunter. Die eben noch lange Lockenpracht der Ungarin hängt nun als Wollknäuel zwischen Schultern und Hintern. Allein es ist ein Wunder – ein Wunder ist es, wie wenig schief geht unter dieser Anspannung.

Alle wollen Weltmeister werden, doch nur drei haben wirklich Chancen. Das UTSC Forum Wien, der TK J. Calábkove Ostrava aus Tschechien und Savaria TSE Szombathely sind gut, doch Bremerhaven, Klaipéda und Aachen sind perfekt. Nach der Vorrunde lichtet sich das Feld auf 13 Teams, im Finale dürfen nur noch sechs antreten. Der Kampf der Titanen ist auch ein Kampf der Stile. Akrobatische Einlagen wie eine kaum zu schaffende Pirouette in der Hocke oder eine elegante Variation der so genannten Sambarolle sind die atemraubenden Geheimwaffen der Litauer. Das ist Showtanz, das ist Ballett.

Aber, so wenden die Kritiker ein, das ist nicht mehr unbedingt Latein. Die Deutschen dagegen setzen auf die Binnenbewegung der Tänzer-Innen: Da hat der Jive den Swing, den er haben soll. Da sind die Bewegungen der Rumba so flirtend, wie sie sein sollen. Und da wird das, was im Paartanz als gut gilt, zur Formation verachtfacht. Gemeinerweise werden die Choreographien nicht gewertet, wohl aber die gleichmäßige Ausführung aller Schwierigkeiten. Und da kann sich an diesem langen Samstag die TSG Bremerhaven wieder einmal von Runde zu Runde steigern. Pure Energie erfüllt die Stadthalle zu Bremerhaven, es knistert, es glüht, es riecht nach Schweiß, dann endlich – die offene Wertung: Zweimal die zwei! Fünfmal die eins! Es reicht! Jubel! Tränen! Ekstase!

Nur die Schlaglöcher auf dem Parkplatz der Stadthalle Bremerhaven sind so tief wie in Buster-Keaton-Filmen.

Christoph Köster