Der poetische Funktionalismus

In Bernau steht einer der größten Komplexe aus der Bauhaus-Schule: eine ehemalige Gewerkschaftsschule, 1928 entworfen von Hannes Meyer, damals Direktor des Bauhaus. Jetzt wird sie in ein Ausbildungsinternat der Handwerkskammer umgebaut

„Jede Bauzeile ist eine Sippe ohne Blutsverwandtschaft“

von KATRIN BETTINA MÜLLER

„Sehen Sie da den Knick in der Decke?“, fragt Herr Schneider von der Unteren Denkmalbehörde des Landes Brandenburg. „Da hat Hannes Meyer mit seinen Studenten am Bauhaus ausgerechnet, dass durch die schrägen Flächen das Tageslicht am besten in den Unterrichtssaal gelenkt werden kann.“ Unter dem Knick hat sich heute eine Pfütze gebildet, das Dach ist nicht mehr dicht nach drei Jahren Leerstand.

Winfred Brenne, dessen Architekturbüro mit dem denkmalhistorischen Rückbau der alten Gewerkschaftsschule und dem Umbau zum Internat beauftragt ist, dreht derweil begeistert an dem eisernen Rad, über das sich die Oberlichtfenster kippen lassen. Das funktioniert, auch nach siebzig Jahren noch.

Zum Rundgang in Bernau trafen sich Denkmalschützer, Architekt, der neue Bauherr und Vertreter des Landes Brandenburg. Sie alle teilen die Begeisterung über die neue Nutzung des denkmalgeschützten Objekts. Mit dem Internat der Handwerkskammer ist es möglich geworden, die Studentenwohn- und Lehrerhäuser, Speisesaal und Turnhalle in ihrer ursprünglichen Funktion wieder herzustellen. Andere Überlegungen der Stadt Bernau, etwa ein Gymnasium hier einziehen zu lassen, hätten größere Eingriffe in die vorhandene Struktur verlangt. Groß war deshalb die Erleichterung, als sich die Handwerkskammer, die schon einen Neubau auf eigenem Gelände plante, zur Übernahme in Erbbaupacht bereit erklärte. Voraussetzung war eine Finanzierung, die 80 Prozent der Baukosten aus Fördertöpfen des Landes, des Bundes und der EU schöpfen kann.

In Sachsen-Anhalt hat die Stadt Dessau ihr Bauhauserbe als attraktives Kapital wiederentdeckt, das Besucher anzieht und neue Perspektiven der Stadtentwicklung vorschlägt. Neben dem prominenten Schulgebäude von Walter Gropius wurden die Meisterhäuser wieder hergestellt und mit kulturellen Stiftungen belegt. Außerhalb von Dessau stellt die Gewerkschaftsschule in Bernau zwar das größte architektonische Dokument des Bauhaus vor – aber sie ist trotzdem nur Spezialisten bekannt.

Das liegt an der Außenseiterrolle von Hannes Meyer, Bauhausdirektor von 1927 bis 1930, der immer im Schatten von Walter Gropius und Ludwig Mies van Rohe blieb. Meyer hat am Bauhaus die Klassen für Reklame und Fotografie eingeführt, die äußerst wirksam das Bild vom Bauhaus und seinen Nachruhm prägten. In Zusammenarbeit mit einer Tapetenfabrik gewann er einen wichtigen Auftraggeber für die Schule. Aber schon sein Programm für die Möbelwerkstätten – billig herzustellende Schichtholzspinde statt Freischwinger aus Edelstahl – lässt seine spartanische Ästhetik erkennen.

Doch vor allem sein Engagement für den Kommunismus und seine Arbeit als Lehrer und Städteplaner unter Stalin 1930–1936 ließ seine ehemaligen Bauhauskollegen von ihm abrücken. Sie unterschlugen seine Rolle. Der Ruf als Linker stand ihm später in der Bundesrepublik und seiner Heimat Schweiz im Weg, während ihn die DDR des Formalismus und Kosmopolitismus verdächtigte. Er starb 1954 verarmt. Erst zu seinem hundertsten Geburtstag 1989 setzte mit Ausstellungen in Berlin und Frankfurt am Main eine breitere Rezeption ein.

Von seinem „poetischen Funktionalismus“ finden sich in Bernau viele Spuren. Strom- und Wasserleitungen laufen über das gelbe Ziegelmauerwerk als dekorative Bänder. Ein gläserner Gang umklammert die Funktionseinheiten: Er löst sich vom Speisesaal, führt an den gestaffelten Wohnhäusern der Schüler vorbei, steigt neben der Turnhalle an und umrundet die Unterrichtsräume darüber. Zeitgenossen schwärmten von dieser Chiffre der Bewegung, die zugleich den Blick in die damals noch unbebaute Landschaft inszenierte. Ebenso öffneten sich in der Turnhalle faltbare Glastüren auf eine Wiese. Die Fassade, später aus Gründen der Wärmedämmung davor gebaut, soll jetzt ebenso zurückgenommen werden wie die Holzverkleidung im Glasgang.

Nichts mehr ist zu sehen vom ehemaligen Herzstück der Schule, einer gläsernen Cafeteria, die über dem Viertel eines Kreises gebaut war wie ein Gelenk zwischen Speisesaal und Wohnhäusern. Die Anbauten, die später an ihrer Stelle entstanden, sollen abgerissen und der Wintergarten wiedergewonnen werden.

Eine symbolische Überhöhung des Funktionalen kennzeichnete den ehemaligen Eingang. Drei Kamine überragten ihn wie Säulen und wurden in einer ideologischen, vielleicht nie ganz ernst gemeinten Überfrachtung als die drei Pfeiler der Arbeiterbewegung gelesen: Genossenschaft, Gewerkschaft, Partei. Sie verschwanden in den Fünfzigerjahren, als der Architekt Georg Waterstrat eine Erweiterung der Schule für den FDGB baute. Sein vorsichtiger Neoklassizismus erinnert an die sowjetischen Paläste für das Volk und steht heute ebenfalls unter Denkmalschutz.

Hannes Meyer war davon überzeugt, dass die Struktur eines Gebäudes den Geist der Gemeinschaft formt. „Jede Bauzeile ist eine Sippe ohne Blutsverwandtschaft“, schrieb er 1925. Er selbst war in einem Kinderheim aufgewachsen und von den pädagogischen Gedanken Pestalozzis angetan. Mehr noch als dieser biografische Hintergrund aber prägte das politische Ideal der Gemeinschaft die Strukturen seiner Architektur. In Bernau stellte er sich vor, wie die zehn Schüler, die an einem Flur wohnen, eine Tischgemeinschaft und vielleicht auch eine sportliche Mannschaft bilden.

Nur drei Jahre bestand die AGDB-Bundesschule zur Ausbildung ehrenamtlicher Funktionäre. 1933 übernahm eine Reichsführerschule der SS das Gebäude, deren Abgänger den kriegsinitiierden Überfall auf den Sender Gleiweitz planten. Das dokumentiert ein kleines Informationszentrum, das in einem der Lehrerhäuser von einem Verein „Baudenkmal Bundesschule Bernau“ eingerichtet wurde. In ihm engagieren sich ehemalige Professoren der Gewerkschaftsschule des FDGB, die hier von 1947 bis 1990 arbeiteten. „Ihrem Engagement verdanken wir viel“, sagen die neuen Nutzer, denn der Verein hat durch seine Öffentlichkeitsarbeit zur Bekanntheit der Schule beigetragen.

Das Internat wird Teil des Bildungs- und Innovationszentrums der Handwerkskammer, die in Bernau nicht nur Lehrlinge aus Berlin, sondern auch überregional Gerüstbauer, Raumausstatter und Parkettleger ausbildet. Bis zu 100 Internatsplätze sind geplant bis 2004. Nächstes Jahr hofft man, schon die Küche und den Speisesaal wieder nutzen zu können, wo das Parkett jetzt noch hohe Wellen schlägt.