Die Aufwertung eines Naturwunders

Dem Rheinfall von Schaffhausen drohen die Besucher auszugehen. Ein Themenpark sollte Abhilfe schaffen. Doch um die „sakrale Pietät“ der stürzenden Wasser nicht zu stören, hat man sich auf kleinere Modernismen geeinigt

„Besucher, die nur ihren Dreck und ihre Abgase hinterlassen, sonst nichts“

von GEORG ETSCHEIT

Der Abstieg zum Naturwunder beginnt im Industriegebiet. Vorbei an fantasielosen Einheitsbauten führt der Weg, durch lärmende Straßen. Doch mit jedem Schritt mischt sich in die Alltagsgeräusche des verkehrsreichen Städtchens ein Grummeln und Zischen, das sich, unten am Flussufer angekommen, zu einem fast ohrenbetäubenden Brüllen gesteigert hat. Das ist er also, der Rheinfall von Schaffhausen, größter Wasserfall Europas, wie eine Schautafel den Besucher aufklärt. Über mehrere Geländestufen stürzen hier die Wassermassen des Hochrheins immerhin 23 Meter talwärts, was die Lärmentwicklung verständlich macht. Eigentlich haben wir uns den Katarakt, Bilder der Niagarafälle vor Augen, kleiner vorgestellt, unbedeutender, europäischer. Doch der Rhein, den wir so friedlich wähnen, romantisch, rebenumkränzt, hier ist er außer Rand und Band.

Zur Blütezeit des Rheinfall-Tourismus, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war dieses Naturwunder oft das einzige Ziel der Reisenden. Wer es sich leisten konnte, pilgerte nach Schaffhausen, um sich an wilden Wassern existenziellen Gedanken hinzugeben. Viele Berühmtheiten und gekrönte Häupter waren darunter: Goethe natürlich auch, der Vielgereiste, der mit der ganzen Macht seiner Wortkunst von der „gewaltsamen Erscheinung“ schwärmte. Einfachere Gemüter wurden sehr fromm angesichts der Naturgewalten. „Brausend wie auf Sturmes Flügel, / Über Felsen über Hügel, / Folgend tausendjährger Spur – Gott, wie groß ist die Natur!“, dichtete 1839 ergriffen ein Lehrer aus Württemberg. Heute geht die typische Rheinfall-Visite prosaischer und deutlich schneller vonstatten. Recht unfroh schildert Herr Hak, wie sich Bustouristen auf Kaffeefahrt das Naturwunder aneigneten. „Da war eine Dame, die ging vom Parkplatz nicht mal zum Fluss hinunter. Die stellte sich vor dem Bus auf, legte eine Postkarte mit dem Rheinfall vor sich auf den Boden und filmte die mit ihrer Videokamera ab.“

Hanspeter Hak ist Vizepräsident des Gemeinderats von Neuhausen und sieht nicht besonders glücklich aus. An dieser Stelle sei zunächst erklärt, dass die wahre Heimat des Rheinfalls eigentlich nicht Schaff-, sondern Neuhausen ist. Das Städtchen liegt etwa drei Kilometer flussabwärts von Schaffhausen, und seine Bewohner sehen es höchst ungern, dass die Nachbarn seit je so unbefangen mit „ihrem“ Rheinfall hausieren gehen. Neuhausen war übrigens die Wiege der europäischen Aluminiumindustrie und ein bedeutender Rüstungsstandort, was nicht zuletzt dem Rheinfall zu verdanken war, dessen geballte Wasserkraft sich die Menschen schon lange vor Aufblühen des Tourismus zunutze machten. Auf alten Ansichten ist das Naturwunder geradezu umzingelt von Industriebauten. Die verschwanden nach und nach, zum Nutzen der Natur, aber zum Schaden der arbeitenden Menschen.

Die Folgen des Strukturwandels hat man noch nicht verdaut, zumal auch die einst boomende Hotellerie ziemlich daniederliegt. „Es brodelt hier, wenn auch nur unter der Oberfläche“, sagt Herr Hak. Und dann sei da noch das Problem mit dem Rheinfall. Keine Angst! Versiegt ist der Wasserfall nicht. Er brodelt, mal mehr mal weniger heftig, je nach Jahreszeit. Das tut er schon seit schätzungsweise 17.000 bis 14.000 Jahren, und es sieht nicht so aus, als käme er irgendwann einmal zur Ruhe. Hier liegt also nicht das Problem, das Herrn Hak umtreibt. Das aktuelle Ungemach betrifft die Touristen. Die werden immer weniger, und sie bleiben immer kürzer, was nicht gut ist für den klammen Gemeindesäckel. Die Verweildauer sei das größte Problem, sagt Herr Hak. „Was wir heute hier haben, ist ein Viertelstunden-Tourismus. 80 Prozent kaufen noch nicht einmal ein Souvenir. Solche Besucher, die nur ihren Dreck und ihre Abgase hinterlassen, aber null zur Wertschöpfung beitragen, wollen wir nicht.“

Nach offizieller Darstellung hat sich die Besucherzahl seit den 60er-Jahren auf heute 1,7 bis 1,9 Millionen Besucher pro Jahr fast halbiert. Für 85 Prozent aller Gäste sei der Rheinfall nur noch ein „auf der Durchreise flüchtig begutachtetes Nebenprodukt“. Und was wohl am schwersten wiegt für die geschäftstüchtigen Eidgenossen: Rund die Hälfte aller Besucher am Fall ließen, wie Herr Hak schaudernd betont, im Ort keinen Franken liegen.

Erschwerend kommt für die Tourismusmanager der Region Schaffhausen hinzu, dass ringsherum in Deutschland und der Schweiz die Event- und Vergnügungsparks geradezu aus dem Boden schießen. Den Europapark Rust gibt es schon länger, und er erfreut sich steigender Beliebtheit. Jetzt soll auch am nahen Bodensee ein riesiges Freizeit- und Kongresszentrum namens Swiss Marina mit Spielkasino, Sportarena, 4.500-Betten-Hotel und Open-Air-Amphitheater aus dem Boden gestampft werden. Weitere einschlägige Destinationen sind in Planung, etwa Erich von Dänikens „Mystery“-Park bei Interlaken, wo der Nestor der Ufologie seine bislang nur in Bestsellern verbreiteten Hirngespinste ein zweites Mal vermarkten will. Und im recht beschaulichen Disentis nahe der Rheinquelle in Graubünden wird es die Natur bald mit einem „Park Alpin“ zu tun bekommen, wo, inmitten der schönsten Bergwelt, die Alpen noch einmal künstlich nachgebildet werden, inklusive künstlicher Sturzbäche, Eisgrotte, Tropfsteinhöhle und Murmeltiergehege.

Auch in Schaff- respektive Neuhausen wollte man da nicht zurückstehen. An dieser Stelle tritt Thomas Holenstein auf den Plan. Der Mann ist Wirtschaftsförderer des Kantons Schaffhausen und treibende Kraft eines Projekts mit dem klangvollen Namen „Rheinfall 2000 plus“. Dessen ursprüngliches Konzept hätte dem Rheinfall wohl die Schau gestohlen. Mehrere mit „modernsten audiovisuellen Möglichkeiten und Computeranimationen“ aufgemotzte „Themenparks“ sollten ganz auf die Bedürfnisse der „Generation F“ (wie Fun) zugeschnitten sein, inklusive „U-Boot-Tauchfahrten“ im Rheinfallbecken. Mit Schrägliften vom Schloss Laufen auf der Züricher Rheinseite hinab zum Ufer wollte man das steile Gelände bequemer erschließen, gar eine Seilbahn über den Rhein war in der Diskussion. Geschätzte Gesamtkosten: 40 Millionen Franken.

„Was wir heute hier haben, ist ein Viertelstunden-Tourismus“

Die Maßnahmen sollten „den Rheinfall als touristisches Ziel aufwerten, die Besuchszeit und Aufenthaltsdauer der Gäste verlängern und gleichzeitig auch die wirtschaftlichen Aspekte verbessern“, hieß es. Emissäre der kantonalen Wirtschaftsförderung waren sogar zu den Niagarafällen gereist, um sich zu informieren, wie die Amis ein Naturwunder vermarkten. Doch die Tourismusexperten hatten ihre Rechnung ohne die Bevölkerung gemacht. Vor allem das Vorhaben, einen Teil des Rheinfalls für die Öffentlichkeit faktisch zu sperren, rief heftigste Proteste hervor. Ökologen machten auch ethische Bedenken geltend, setzen dem „Jagen nach Wachstum und Umsatzsteigerung“ die „sakrale Pietät“ des Naturschauspiels entgegen. Ruedi Schneider vom „Rheinaubund“ kann sich höchstens ein „Rheinfall-Museum“ vorstellen, will aber ansonsten alles so lassen, wie es ist. „Man kann doch nicht so tun, als wenn das hier unberührte Natur wäre“, hält Holenstein tapfer dagegen und versichert: „Wir wollen hier kein Disneyland.“

Die Projektpläne zogen ihre Kreise, riefen empörte Abgeordnete in den Kantonsparlamenten von Schaffhausen bis Zürich auf den Plan, wurden gar bei der Berner Regierung anhängig. Die fühlte sich bewogen, darauf hinzuweisen, dass der Rheinfall im „Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung“ enthalten sei und „größtmögliche Schonung“ verdiene. „Als Ultima Ratio“, drohte die Regierung, „könnte der Bund den Rheinfall vertraglich oder auf dem Enteignungsweg erwerben oder anderweitig sichern.“

Daraufhin trat der „Steuerungsausschuss“ des Projekts „Rheinfall 2000 plus“ den geordneten Rückzug an. Der Zugang zum Rheinfall soll nun „voll umfänglich offen bleiben“, auch der Zwang, nur das ganze Paket buchen zu können, ist gefallen. Von dem einstigen Eventpark sind drei Einzelprojekte übrig geblieben: ein Rheinfall-Tourismus-Museum in Schloss Laufen, eine naturkundliche Ausstellung zur Entstehung des Rheinfalls mit „Riesen-Aquarium“ in der alten Fischzuchtanstalt beim Schlössli Wörth sowie verschiedene Darstellungen zur Industriegeschichte des Rheinfalls auf dem Gelände der früheren Aluminiumfabrik am Neuhauser Ufer. Und alles werde, so Holenstein, in bestehenden Gebäuden untergebracht. Mit dem überarbeiteten Projekt könnten sich wohl auch die Naturschützer anfreunden, denen nicht entgangen ist, dass die leicht angegammelte Neuhauser Rheinfall-Promenade durchaus sanierungsbedürftig ist. Die touristische Infrastruktur ist in der Tat dürftig,Ein wenig Gastronomie, ein Kiosk, ein provisorischer Infopavillon, ein staubiger Kinderspielplatz, ein paar Tafeln mit erklärenden Worten zum Rheinfall – das war’s auch schon. Und das alles vor der wenig attraktiven Kulisse der Neuhauser „Skyline“.

Wenn man sich mit einem zerbrechlich wirkenden Boot hinüberfahren lässt zum wasserumtosten Rheinfall-Felsen mit der Schweizer Fahne obenauf, mag man den Streit um die „Aufwertung“ eines Naturwunders freilich gar nicht mehr verstehen. Hier sieht man, wie der Rhein Anlauf nimmt und sich an der Abbruchkante von einer blau schimmernden Wasserwalze in ein wüstes Gebrodel verwandelt, eine Orgie aus grauen und grünen Schaumbergen und stiebender Gischt. Diesem gigantischen Ereignis, von der Natur zum Nulltarif für die Ewigkeit bereitgestellt, kann wohl kein wie auch immer gestalteter Eventpark je das Wasser reichen.